Rezension

Ein integres Stammesoberhaupt gegen den Rest der korrupten Welt der Weißen

Der Nachtwächter
von Louise Erdrich

Thomas Washushk lebt im Turtle Mountain Reservat in North Dakota und arbeitet in den 50ern des vorigen Jahrhunderts als Nachtwächter in der gleichnamigen Lagersteinfabrik, die aus Edelsteinen die Lager für Uhren und für das US-Militär herstellt. Neben seiner Verantwortung am Arbeitsplatz drückt Thomas die Versorgung seiner Familie, da es im Reservat keinen funktionierenden Brunnen gibt und das Land für Ackerbau kaum geeignet ist. Bei der Festlegung der Reservatsgrenzen hatten die Weißen darauf geachtet, sich selbst fruchtbaren Boden und die Flurstücke zu sichern, in denen sie wertvolle Bodenschätze vermuteten. Wenn Thomas seinen nächtlichen Rundgang beendet hat, schreibt er im Auftrag des Stammesrats zahlreiche Briefe an die Presse und an Politiker, weil in seinem Bundesstaat die Verträge mit den Indianerstämmen noch einmal geändert werden sollen – zu deren Nachteil. Die versprochene Unabhängigkeit wird bedeuten, dass das Reservat  Straßen, Schulen und Gesundheitsversorgung selbst finanzieren muss, die laut Vertrag bisher Aufgabe des amerikanischen Staats sind. Um die Rechte seines Stammes selbstbewusst zu vertreten, dazu fehlt Thomas bisher das Wissen – und die Zeit drängt.

Aus vielen kleinen Puzzlestücken entsteht ein lebendiges Bild vom Leben in einem Indianerreservat, das den Bewohnern aufgezwungen wurde und ihrer nomadischen, die Natur schützenden Lebensweise überhaupt nicht entspricht. Wie der Stamm es ohne finanzielle und juristische Unterstützung von außen schaffen soll, von Senator Watkins (einer realen Person), nicht über den Tisch gezogen zu werden, konnte ich mir anfangs nur schwer vorstellen.

Stammesmitglieder bleiben praktisch lebenslang unter den Fittichen der Gemeinschaft und der Ältesten, selbst wenn sie längst in anderen Orten leben. So sorgt die Gemeinschaft sich aktuell um Thomas Nichte Vera, von der man nichts mehr gehört hat, seit sie nach Minneapolis gezogen ist. Pixie/Patrice, Veras clevere Schwester, will der Sache in der Stadt auf den Grund gehen. Lehrer Barnes trainiert Pixies Bruder „Wood Mountain“ als Boxer, doch offensichtlich arbeitet er im Reservat nicht allein aus sozialer Motivation. Zunächst muss eine Gemeinschaft ohne Rücklagen eine Kampagne gegen ihre endgültige Enteignung führen.

Louise Erdrich führt ihre Leser, dicht an die Biografie ihres Großvaters angelehnt, in die dunkelsten und trostlosesten Winkel der zumeist von Christen betriebenen Ausrottung der Ureinwohner. Sie zeigt Zwangs-Prostitution, Alkoholismus, alltäglichen Rassismus und das System des Internatszwangs für Kinder indianischer Herkunft, um ihnen ihre Kultur mit Gewalt auszutreiben.  Erdrich-Fans  wird so wenig wundern, dass die vermisste Vera und ein verstorbener Freund von Thomas als Visionen auftreten wie die Erzählstimmen von Pferd und Hund. Es geht in der teils tragikomischen Geschichte u. a. um kluge Frauen, die niemand unterschätzen sollte, einen Mann, der sich in ein fremdes Baby verliebt – und vor allem um ein integres Stammesoberhaupt, das sich gegen den korrupten Rest des Staates auflehnt.

Turtle Mountain Band of Chippewa Indians