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Die Söhne der Wölfin - Tanja Kinkel

Die Söhne der Wölfin

von Tanja Kinkel

Für Fasti war das Bestürzendste an der Enthüllung, die ihre Novizin ihr machte, daß sie aus heiterem Himmel kam. Trotz all der Ereignisse der letzten Wochen, trotz all der Zeichen, die gedeutet wurden, hatte es keinen Moment der Vorahnung bei der Hohepriesterin gegeben. Was Fasti, die im Innersten dazu neigte, ihrer scharfen Beobachtungsgabe genauso wie den meisten Hinweisen der Götter zu vertrauen, jedoch noch mehr verletzte, war, daß es auch im Verhalten des Mädchens, das jetzt vor ihr stand, nichts Auffälliges gegeben hatte. Die frühe Morgensonne zauberte eine Schwelle aus hell glühendem Terrakotta in den Eingang der Zelle und zeichnete für Fasti, die sich im dämmrigen Inneren des Raumes befand und gerade erst ihr morgendliches Gebet für die Göttin gesprochen hatte, die Gestalt des Mädchens so scharf wie eine der Figuren, mit denen die Griechen ihre kostspieligen Vasen zierten. Ilian hielt sich kerzengerade, und ihre Hände preßten sich an die Oberschenkel, doch ansonsten unterschied sie sich in nichts von der Novizin, die Fasti noch am gestrigen Morgen über nichts Schlimmeres als eine Erhöhung der Ölpreise für die Tempellampen unterrichtet hatte. Fasti starrte sie an und versuchte ihrerseits, gefaßt zu sein. Die Mischung aus Bestürzung, Enttäuschung und Entsetzen, die in ihr hochstieg, machte ihr das schwer. Ein Teil von ihr hoffte, sich verhört zu haben, ein anderer war versucht, Ilian bei den Schultern zu packen und zu schütteln, während ihr verläßlicher, vorausplanender Verstand, der ihr seit mehr als einem Jahrzehnt ihre Position sicherte, sich bereits verzweifelt bemühte, eine Lösung zu finden. »Ich erwarte ein Kind«, wiederholte Ilian mit der klaren, tragenden Stimme einer ausgebildeten Priesterin und klang dabei erzürnenderweise nicht im geringsten reuig oder eingeschüchtert. Nicht zum ersten Mal fragte sich Fasti, ob Ilian je ihr Selbstverständnis als Tochter des Königs abgelegt hatte. Sich der Göttin Turan zu weihen bedeutete, seine Herkunft hinter sich zu lassen. Eigentlich sollte man meinen, daß Ilian diese Lektion verinnerlicht hätte, zumal ihr Vater niemand war, auf den man stolz sein konnte. Allein das Weiterleben Numitors war bereits eine Schande. Numitor war für Alba ein schlechter König gewesen; unter seiner Regentschaft hatte die Stadt alle wichtigen Handelsverträge verloren, sich in einen törichten Kleinkrieg mit Xaire verstrickt und stand nun als die unbedeutendste im Bund der Zwölf dar. Sogar die latinischen Barbaren wagten es immer häufiger, Handelszüge aus Alba zu überfallen, was früher undenkbar gewesen wäre. Fasti hatte gemeinsam mit den Hohepriestern der übrigen Götter die Zeichen beraten, und die Blitze, die ihnen bald darauf gesandt wurden, verkündeten eine eindeutige Botschaft: Der König mußte sterben. Es war ein altes Gesetz, das nur noch selten Anwendung fand; in Zeiten der Not starb der König für seine Stadt und holte ihr so das Glück zurück. Das Opfer mußte jedoch freiwillig gebracht werden; ein König, der gegen seinen Willen getötet wurde, bewirkte nur Unglück. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, daß Numitor sich weigern würde weigern mit einer Arroganz, die offenbar ein verhängnisvolles Merkmal seiner Familie darstellte. Nicht, daß der Hochmut Numitor viel genützt hätte. Einen König zu entthronen, der einmal von den Göttern anerkannt worden war, hatte keiner der Priester gewagt, doch als Numitors Bruder Arnth diese Pflicht auf sich nahm, war ihm ihre volle Unterstützung zuteil geworden. Nicht bedingungslos; Fasti selbst hatte Arnth gewarnt, daß ein Bruder, der einen Bruder tötete, den schlimmsten aller Flüche auf sich lüde. Und so hatte Arnth Numitor nicht umgebracht, sondern lediglich verbannt; allerdings nicht, ohne einige gründliche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Numitor würde keine rachedurstigen Söhne mehr zeugen können, denn seine Männlichkeit war ihm genommen worden, ebenso wie den beiden bereits vorhandenen Söhnen, die man den Phöniziern als Sklaven verkauft hatte. Fastis Mitleid mit den jungen Männern hielt sich in Grenzen. Die beiden waren empört über die Forderung der Priester nach dem freiwilligen Opfertod ihres Vaters gewesen und zeigten die gleiche kurzsichtige und verhängnisvolle Überheblichkeit wie er. Ilian, Numitors einzige Tochter, hatte sie bisher anders eingeschätzt. Ilian war bereits als Kind der Göttin übergeben worden und hatte stets eine vielversprechende Mischung aus gesundem Menschenverstand und Intuition gezeigt. Sie war wißbegierig, sie begriff rasch, und es gab Anzeichen, daß sie die Blitze nicht nur deuten, sondern auch herbeirufen konnte. Von ihr waren keine Proteste über die Notwendigkeit eines Königsopfers laut geworden, und wenn sie die Machtübernahme durch ihren Onkel übelnahm, dann war sie zu klug, um es auszusprechen. Alles in allem berechtigte sie zu den schönsten Hoffnungen, und Fasti hatte geplant, sie im nächsten Winter, wenn ihr fünfjähriges Noviziat beendet wäre, zu ihrer Nachfolgerin auszubilden. Es stand nicht zu erwarten, daß Arnth protestieren würde. Eine Priesterin durfte niemals heiraten, und solange es keinen Ehemann für Ilian gab, der in ihrem Namen Anspruch auf den Thron von Alba erheben konnte, würde sie ihm nicht gefährlich sein. All das machte Ilians Verhalten um so unbegreiflicher. Die Jungfräulichkeit einer Novizin war heilig, denn sie diente dem Aspekt der Göttin, der Jungfrau war. Erst die Priesterinnen, die Turan der Gebenden huldigten, der Mutter allen Lebens, hatten das Recht, sich einem Mann hinzugeben, und sie taten es nur, wie die Göttin es wünschte. »Du bist...«, begann Fasti, dann hörte sie, daß ihre Stimme rauh klang, und hielt einen Moment lang inne, bis sie sicher sein konnte, ihre übliche kühle Gelassenheit wiedererlangt zu haben, »du bist nicht vergewaltigt worden?« Schon als sie dies sagte, wußte sie, daß es eine Feststellung war, keine Frage. Eine Priesterin zu vergewaltigen war ein solch ungeheuerliches Vergehen und zog eine so grausame Strafe nach sich, daß es höchstens einmal in drei Generationen vorkam. Überdies hätte Ilian in einem solchen Fall nichts daran gehindert, es Fasti sofort zu berichten und dafür zu sorgen, daß der Schuldige bestraft würde. »Nein«, entgegnete Ilian. Sie schaute zu dem Altar hinter Fasti, auf dem ein Abbild der geflügelten Turan stand. »Aber ich hatte auch keinen Liebhaber«, fügte sie mit einem Anflug von Trotz hinzu, der Fasti daran erinnerte, daß Ilian bei aller Schulung noch sehr jung war, zweimal sieben Jahre erst. Dann trat sie einen Schritt näher, löste sich aus dem Lichtfleck am Eingang und fuhr fort, ohne den Altar aus den Augen zu lassen: »Es ist das Kind eines Gottes, und die Göttin selbst hat es gebilligt.« Diesmal versuchte Fasti nicht einmal, ihre Reaktion zu unterdrücken. Sie ging zu Ilian und schlug ihr, ohne zu zögern, ins Gesicht, zweimal, einmal mit der Handfläche, dann, weit ausholend, mit dem Handrücken. Ilian keuchte unwillkürlich auf, aber sie machte keine Anstalten, sich zu schützen, was einiges an Selbstbeherrschung erforderte. Sie überragte Fasti bereits, doch Ilians schlanke Gestalt hatte noch etwas Weiches, Unfertiges, während die muskulöse, untersetzte Fasti über die Zähigkeit und Härte einer Bäuerin verfügte. Einen Moment lang wünschte sich Fasti, das Mädchen umbringen zu können, und wußte gleichzeitig, daß sie es nie fertigbrächte. Nicht einmal einen Herzschlag lang zog sie in Erwägung, daß Ilian die Wahrheit sagen könnte. Im Gegenteil, nun war ihr alles klar. Sie hatte nicht einfach eine leichtsinnige Novizin vor sich, die ihre Zukunft für ein paar süße Worte eines unbekannten Verführers fortgeworfen hatte und die nun Zuflucht in einer blasphemischen Ausrede suchte. Nein, es war viel gefährlicher. Wenn Ilian öffentlich behauptete, das Kind eines Gottes in sich zu tragen, dann würde ein Teil der Bevölkerung ihr Glauben schenken, statt sie als gefallene Priesterin zu verachten. Der Trotz ihres Vaters gegen den Willen der Götter wäre dann vergeben und seine Erblinie wieder gültig. Ilians Kind, ob Mädchen oder Junge, hätte nicht nur Anspruch auf den Thron, nein, seine halbgöttliche Herkunft würde es auch jedem Sprößling Arnths überlegen machen. Und da Arnth bisher so sorgfältig darauf geachtet hatte, keinen seiner Blutsverwandten zu töten, stand nicht zu erwarten, daß er jetzt bei einer schwangeren Frau den Anfang machen würde. Selbst die trächtige Häsin war unantastbar. Seine Nichte in ihrem augenblicklichen Zustand zu töten wäre selbst dann ein Sakrileg, wenn sie nicht der Göttin geweiht wäre. Zumindest hatte Fasti sich nicht in Ilian getäuscht, was ihren Verstand anging. Beinahe mischte sich widerwillige Bewunderung in den Zorn, der sie nun ganz und gar erfüllte. »Du wirst uns nicht in einen Krieg mit dem König hineinziehen«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Es hat schon genug Zwist zwischen Tempel und Thron gegeben, glaube nur nicht, daß wir dich um dieser Lüge willen schützen werden.« »Es ist keine Lüge.« Fasti musterte Ilian, als sähe sie das Mädchen zum ersten Mal. In dem dämmrigen Licht der Zelle wirkten Ilians Augen, die braun waren, fast schwarz. Sie hatte eine sehr helle Haut, und so konnte man immer noch die roten Male, die Fastis Finger hinterlassen hatten, erkennen. Ihr herzförmiges Gesicht mit der breiten Stirn und dem spitzen Kinn würde in ein paar Jahren schön sein; jetzt wirkte es nur kindlich, da die hohen Wangenknochen noch nicht zur Geltung kamen. Ihr Haar war hochgesteckt, wie es sich gehörte, doch unter der Wucht von Fastis Schlägen hatten sich einige der dunklen Locken gelöst und standen im Widerspruch zu den zusammengepreßten Lippen. Fasti weigerte sich, etwas wie Rührung in sich aufkommen zu lassen. »Und welcher Gott«, fragte sie bitter, »soll das gewesen sein?« Insgeheim war sie gespannt auf die Antwort, die das Ausmaß der Katastrophe verraten würde. Nur die Priesterschaften von Nethuns und von Cath waren mächtig genug, den Zorn des Königs riskieren zu können, aber sie hatten bei seiner Inthronisierung geholfen, und es wäre töricht von ihnen, einen fähigen, geneigten Herrscher, der bereits alle gewünschten Reformmaßnahmen eingeleitet hatte, gegen ein Kleinkind, ein vierzehnjähriges Mädchen und den Mann, der das verwünschte Kind gezeugt hatte, einzutauschen. Andererseits stand es durchaus im Bereich des Möglichen, daß sich eine von ihnen von dem Machtwechsel mehr versprochen hatte und nun bereit war, es auf einen Aufruhr des Adels ankommen zu lassen, um die Verehrung ihres Gottes über die der anderen zu erheben. Nethuns war der traditionell Mächtigere, aber in den letzten Jahren waren Cath mehr und mehr Opfergaben gebracht worden, und wenn einer von beiden erhoffte, auf diese Weise den endgültigen Vorrang zu erreichen... Sie sah einen Bürgerkrieg vor sich, betrieben von gewissenlosen Ehrgeizlingen, sah Alba endgültig zugrunde gehen, seine Bewohner gezwungen, in den übrigen Städten des Bundes Zuflucht zu suchen, und es schauderte sie. »Keiner von unseren Stadtgöttern«, entgegnete Ilian, und die Last auf Fastis Schultern verringerte sich ein wenig. Das bedeutete, daß Ilian von niemandem unterstützt wurde und allein handelte. In diesem Fall war es weise, nicht einen der Götter, deren Priester hier in der Stadt weilten, als Vater zu beanspruchen; die Priester von Nethuns wären durchaus imstande, bis nach der Geburt des Kindes zu warten und sie dann zeremoniell als Strafe für ihre Blasphemie zu ertränken. »Was für ein Gott dann?« gab sie spöttisch zurück und war überrascht, Ilian mit einemmal die Beherrschung verlieren zu sehen. »Du glaubst mir nicht«, sagte Ilian heftig. »Als mein Vater solchen Unglauben zeigte, was den Willen der Götter anging, da nanntest du es Lästerung, Fasti, und bis heute dachte ich, du seist dabei aufrichtig gewesen, daß es dir um mehr ging, als um einen Machtwechsel. Nun, ich habe die Zeichen auch gelesen, Fasti.« Sie wandte sich von Fasti ab, kniete vor dem Altar nieder und legte ihre rechte Hand auf das Abbild der Göttin, das Fasti erst vor kurzer Zeit nichtsahnend wie jeden Morgen mit jungem Wein besprengt hatte. »Ich schwöre bei der geflügelten Turan und bei Nurti, die über das Schicksal regiert, daß ich nur dem Willen der Götter gehorcht habe. Sie haben sich mir offenbart. Ein Band wurde gebrochen um der Macht willen, und die Zwölf werden untergehen, aber wenn sich Leben und Zerstörung vereinigen, dann wird geboren, was in alle Ewigkeit fortdauern wird.« Die leidenschaftliche Aufrichtigkeit in Ilians Stimme ließ Fasti einen Moment lang zurückschrecken. Dann holte die Wirklichkeit sie wieder ein. Das Mädchen hatte gerade so gut wie zugegeben, daß sie die Entmachtung ihres Vaters übelnahm. Der Plan, mit dem sie diese wieder rückgängig machen wollte, war für eine Vierzehnjährige erstaunlich gut durchdacht, aber daß sie sich dabei der Götter bediente, war unverzeihlich. »Du hättest meine Nachfolgerin werden können«, meinte Fasti kopfschüttelnd und mehr traurig als ärgerlich. »Hätte das nicht genügt?« Ohne zu antworten, stand Ilian langsam auf. »Mein Kind ist das Kind eines Gottes«, erwiderte sie. »Geh nur zu meinem Onkel und berichte ihm das.« Der übertriebene Reichtum des königlichen Palasts war einer der Gründe, warum die Bevölkerung nicht übermäßig um den gestürzten Numitor trauerte. Das Haus eines Königs sollte Ehrfurcht einflößen, denn der König vertrat die Stadt, aber in schlechten Zeiten statt Getreide griechische Maler einzuführen, wie Numitor es getan hatte, war eine weitere Herausforderung der Untertanen gewesen. Dennoch zollte Fasti dem Ergebnis dieser unklugen Eigennützigkeit bei jedem Besuch aufrichtige Bewunderung. Der Palast mit seinen drei Innenhöfen stand nicht, wie die wichtigsten Tempel, auf einem der höchsten Punkte von Alba, aber er bot eine wunderbare Aussicht auf den See, und wenn man ihn einmal betrat, dann war es unmöglich, nicht den Einfallsreichtum zu würdigen, den diese Lage hervorgerufen hatte. Die Wände des ersten Innenhofes zeigten Wasservögel und Schiffe, Nethuns mit seinen fischschwänzigen Wassergreisen und die ihm zugehörigen Kräuter, Bachginster und Bachminze. Während sie darauf wartete, daß man Arnth von ihrer Ankunft benachrichtige, fiel Fasti auf, daß ein breiter schwarzer Streifen bei einem der Wassergreise die Flügel verdeckte, mit denen man diese Wesen sonst darstellte. Ruß zweifellos; eine Erinnerung an die Nacht, in der Numitor gestürzt worden war? Aber inzwischen war ausreichend Zeit vergangen, um derartige Überreste zu entfernen. Andererseits stand es durchaus im Bereich des Möglichen, daß solche Nebensächlichkeiten Arnth gar nicht auffielen. Einer der Sklaven näherte sich ihr, die Augen niedergeschlagen, wie es sich der Hohepriesterin gegenüber ziemte, und bat, die Edle Fasti möge ihm folgen, der König freue sich darauf, sie zu empfangen. Das bezweifle ich, dachte Fasti. Arnth war von Natur aus mißtrauisch und fragte sich gewiß, ob sie, oder vielmehr die Göttin Turan, schon wieder Forderungen um Unterstützung an ihn stellen wollte.

Rezensionen zu diesem Buch

Interessante Umsetzung der Gründungssage Roms

Tanja Kinkel überzeugt auch in diesem Roman wieder einmal mit der Geschichte einer starken Frau, Ilian, die einen schwierigen Lebensweg vor sich hat. Es geht in diesem Roman um die Gründungssage von Rom, jedoch hat die Autorin den Schwerpunkt auf die Perspektive der Mutter der Zwillinge Romulus und Remus gelegt. Ilian ist Priesterin, als sie schwanger wird und behauptet, ein Gott sei der Vater, wird sie verstoßen und dem Latiner Faustulus zur Frau gegeben. Sie gibt sich jedoch nicht...

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Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
512 Seiten
ISBN:
9783894805388
Erschienen:
Juni 2001
Verlag:
E-Books der Verlagsgruppe Random House GmbH
9
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4.5 (1 Bewertung)

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