Rezension

Zeitzeugnis aus der Sicht eines Kindes

Kind aller Länder - Irmgard Keun

Kind aller Länder
von Irmgard Keun

 

„Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben.“

So definiert die zehnjährige Kully das Ausweispapier, das für sie und ihre Familie Überleben bedeutet. Sie lebt mit ihren Eltern im Exil, seit ihr Vater im Deutschland der 30er Jahre Schreibverbot erhalten hat. Ihr Aufenthalt wechselt ständig; denn der Vater ist ruhelos und hofft stets, an einem anderen Ort, in einem anderen Land bessere Verdienst- und Arbeitsmöglichkeiten  vorzufinden. Oft genug kann der Vater das Essen und das Hotel, in dem sie abgestiegen sind, nicht bezahlen, reist allein weiter, um Geld aufzutreiben, und lässt Frau und Tochter als“Pfand“ zurück.

Aus dem Blickwinkel des Kindes schildert Keun, die selbst einige Jahre in Belgien und den Niederlanden im Exil lebte, sehr bildhaft die Probleme politischer Flüchtlinge jener Zeit. Kullys Denk- und Argumentationsweise haftet etwas rührend Schlichtes an; sie ist noch voller Vertrauen darauf , dass ihr Vater  -  bei all seinen charakterlichen Mängeln  -  schon das Richtige tut und alles wieder gut wird.

In Kullys kindlich naivem Ton erzählt die Autorin eindrucksvoll aus dem täglichen Leben eines Kindes, das keinen festen Wohnsitz, keine Heimat kennt und nur zwei Schildkröten, eine Puppenküche und einen Kaufmannsladen zum Spielen auf ihren Reisen mitnehmen kann: ehrlich, oft komisch, aber auch melancholisch. Die kindliche Schwerelosigkeit des Stils bildet dabei einen kräftigen Kontrast zur drastischen Wirklichkeit ihres Lebens auf der Flucht. „Alles Unheil der Welt beginnt mit der Angst“  sagt Kullys Vater einmal.

Irmgard Keuns Roman „Kind aller Länder“ erschien erstmals bereits 1938 in Amsterdam, als ihre Bücher in Deutschland bereits verboten waren. Doch an Aktualität hat er keineswegs einbüßt.