Rezension

Viel Moral, wenig Geschicht

100 Jahre Leben - Kerstin Schweighöfer

100 Jahre Leben
von Kerstin Schweighöfer

Bewertet mit 3 Sternen

Es ist etwas ganz Besonderes, 100 Jahre alt zu werden. Wer das geschafft hat, hat sehr viel erlebt und vermutlich viel zu erzählen. Kerstin Schweighöfer hat 10 Zentenare besucht und ist dafür quer durch Europa gereist. Eine tolle Idee.
 
Eigentlich sollte man über jeden Einzelnen von ihnen ein eigenes Buch schreiben. Zum Beispiel über Mariska, die in Ungarn geboren wurde und mit zwölf Jahren nach Holland zu einer Pflegefamilie gegeben wurde, weil im eigenen Land die Not zu groß war. Sie ist in Holland geblieben und Malerin geworden. Oder Beatrice, eine Engländerin, die als Archäologin die Welt bereist hat, Pater Hubert, der aus Schlesien kam und Franziskaner wurde.
Jeder erzählt ein wenig aus seinem Leben und man merkt, man lernt hier besondere Menschen kennen, die viel erlebt haben und die aus ihrer heutigen Sicht heraus einiges anders beurteilen als zu Jungendzeiten. Das ist ohne Zweifel interessant. Nur hat man bei jeder Lebensgeschichte, die man hier liest, das Gefühl, das hätte ich jetzt sehr gerne ausführlicher erzählt bekommen. Es klingt, als wenn man sich einen Nachmittag mit seiner Oma zusammengesetzt hätte und Oma erzählt, was ihr gerade so einfällt. Das ist spannend und lehrreich, aber um Omas Leben wirklich zu verstehen, braucht es viele Nachmittage und um das Gehörte wiederzugeben, braucht es deutlich mehr als die gut 30 Buchseiten, die hier jedem Zentenar gewidmet werden. 

So kratzt man nur an der Oberfläche höchst spannender Geschichten. Natürlich hat jeder, der so lange gelebt hat, Weisheiten aus seinem Leben gezogen, die hier recht plakativ weitergegeben werden. „Lass dich nicht von Schönheit blenden“, „Wirkliche Armut ist Einsamkeit“, „Erhalte dir deine Neugierde“ und viele andere zweifellos gute Ratschläge bekommt man mit auf den Weg, die aber in so geballter Form recht gewollt wirken. Viel Moral und wenig Geschicht, könnte man sagen.

Von diesem Buch habe ich mir mehr versprochen. Ich hätte auch gerne gewusst, wie es denn so ist, 100 Jahre alt zu werden. Fühlt man sich anders als mit 90? Welche Erfindung in ihrem langen Leben hat sie am meisten beeindruckt? Was gefällt ihnen gar nicht? Solche Fragen werden fast gar nicht angesprochen, was wirklich schade ist.
Eins habe ich auf jeden Fall gelernt: „Welche Werte wirklich zählen“ liegt wohl auch stark im Auge des Betrachters. Vielleicht sollte man es einfach ausprobieren.