Rezension

So eine Gelegenheit, das war klar, kam nie wieder.

1990
von Rainer Doh

Bewertet mit 4 Sternen

Anfang Dezember tauchten die ersten dieser seltsamen Fahrzeuge, die man bislang nur aus dem Fernsehen kannte, auch im Heckental auf. Seit sie einen Monat zuvor erstmals über die Grenze gedurft hatten, waren sie von Wochenende zu Wochenende mutiger geworden und hatten sich über Bundesstraßen und Autobahnen immer weiter nach Westen und Süden vorgewagt. ... An einem neblig kalten Samstagvormittag stand plötzlich so ein Ding auf dem Oberen Markt in einer ganz normalen Parklücke, direkt vor dem Schaufenster von Käfer-Reisen... "Ein Trabant!" Alle liefen vor die Tür und schauten es sich genauer an: Gottfried Käfer, die Schmick, die Birg und auch Frau Gräser, eine langjährige Stammkundin... "Mein Gott!", rief die Schmick. "Man hat ja schon viel gehört. Aber so aus der Nähe." Gottfried Käfer klopfte mit dem Finger auf den Kotflügel. "Da, hören Sie mal. Absolut metallfrei." ... "Und bei Regen? Weicht das nicht auf?" "Achtung, sie kommen!"

Deutschland, in den spannenden Jahren 1989/1990. Die Wiedervereinigung bedeutete nicht nur, dass die Mauer gefallen war und jeder - nach Belieben - von West nach Ost und von Ost nach West reisen konnte. Lange getrennte Familien fanden sich wieder zusammen und so mancher überlegte, unter diesen neuen politischen Voraussetzungen noch mal ein neues Leben anzufangen. Was das alles bedeuten konnte, wird in diesem Buch am Beispiel einer Familie geschildert.

Die Familie Käfer lebt in einer Kleinstadt nahe des Schwarzwalds. Käfer senior hat ein solides Reiseunternehmen aufgebaut, von dem sich gut leben lässt und das später von Tochter Veronika und Schwiegersohn Paul weitergeführt werden soll. Die neuen Bundesländer liefern Anlass, schnellstens zu expandieren! Und schon frühzeitig zu überlegen, wie man die zu erwartenden Gewinne wieder rentabel investieren kann! Obwohl Veronika und Paul auch ganz andere Sorgen haben, denn mit dem ersehnten Nachwuchs, der schließlich auch Teil des großen Familienplans ist, will es einfach nicht klappen. Und dann sind da auch noch die Verwandten "von drüben", die zwecks Neubeginn ins Heckental gekommen sind...

Wer sich bewusst an diese Zeit erinnern kann, wird vermutlich ganz bestimmte Dinge haben, die ihm beim Stichwort "Wiedervereinigung" sofort einfallen. Zu den Dingen, die man persönlich erlebte, kommen all die, die man aus den Medien erfuhr oder bei Verwandten, Freunden und Nachbarn mitbekam. Dieses Buch kam mir vor wie ein satirisch überzeichnetes "Best of", noch ausgeschmückt mit einem kleinen Streifzug durch die menschliche Doppelmoral.
So erleben wir beispielsweise mit, wie "Wessis" ein Wohnhaus im Osten besichtigen und sich dabei aufführen wie eine Reisegruppe, die einen Zoobesuch macht. Gegenseitige Vorurteile werden auf die Spitze getrieben, es gibt große Erwartungen und manchmal auch große Enttäuschungen. Sehr schön wird dargestellt, wie sehr viele Menschen versuchten, aus der geänderten politischen Situation Nutzen zu ziehen (Stichwort: Aufbau Ost) Auch hier erleben wir einige drastische Schilderungen mit, die, wenn man sie liest, fast schon absurd komisch wirken und mich doch sofort an tatsächliche Vorfälle erinnerten.
Was den kleinen Streifzug durch die menschliche Doppelmoral angeht... Ist es nicht immer wieder erstaunlich, wie Menschen ihre bisherigen Wertvorstellungen über Bord werfen können, weil zum Beispiel das große Geld winkt? Oder die Erfüllung eines privaten Traums? Es gibt einige Beispiele im Buch, die dies (ebenfalls stark übertrieben) zeigen und mich damit sehr gut unterhalten haben. Und ganz nebenbei: Wer sich einbildet, dass dieses große Ereignis der Wiedervereinigung in den Gedanken aller Deutschen oberste Priorität hatte, der irrt gewaltig. Wie der Titel des Buchs schon sagt: Manche hatten ganz andere Sorgen...

Die Handlung des Buchs beginnt im Jahr 1985 mit der Vorstellung der Hauptcharaktere. Der Schwerpunkt liegt dann bei den Ereignissen zu Beginn der 90er Jahre, einige Schicksale werden bis in die 2000er Jahre weiterverfolgt. Zusammen mit dem Schreibstil, der mir sehr gefiel, sorgte die ganze Geschichte dafür, dass ich das Buch nicht aus der Hand legen mochte.

Fazit: Ironischer und unterhaltsamer Streifzug durch ein Stück Deutscher Geschichte und menschliche Doppelmoral.

"In ein paar Wochen ist die Währungsunion ... Bis dahin muss die Sache stehen. Büroräume, Personal, alles..." "Das wird schwierig ... Es gibt ja nicht mal Telefon drüben! Und bis wir einen Maler ..." Er winkte ab. Herrenausstatter Eugen Schäufele hatte kürzlich vergeblich versucht, in Gera einen Malermeister aufzutreiben. "Wir nehmen ein paar Eimer Farbe und streichen einfach selber." "Da müssen wir alles mitbringen. Auch die Pinsel." "Und wenn wir die Putzlappen mitbringen müssen!" So eine Gelegenheit, das war klar, kam nie wieder.