Rezension

Schuld und Sühne

Der Vorleser
von Bernhard Schlink

Bewertet mit 5 Sternen

Ein moderner Klassiker, der schwierige und gerne verdrängte Themen behandelt und kritisch unter die Lupe nimmt.

Michael Berg war gerade 15 Jahre alt, als er von Hanna Schmitz, einer 36jährigen Straßenbahnschaffnerin, verführt wird. Es beginnt ein Liebesverhältnis, bei dem er ihr hörig ist und sie ihn für ihre Zwecke ausnutzt – er muss ihr stets vorlesen, bevor es zum Sex kommt. Dann, eines Tages, ist Hanna plötzlich spurlos verschwunden, kein Abschied, keine neue Adresse, nichts. – Jahre später, als er während seines Jurastudiums einen KZ-Prozess verfolgt, sieht er sie wieder. Eine der fünf angeklagten Frauen, die Aufseherinnen in Auschwitz waren und an Selektionen beteiligt gewesen sein sollen, ist Hanna …

Der Autor Bernhard Schlink wurde 1944 in Bielefeld geboren, wuchs in Heidelberg auf, studierte in Heidelberg und Berlin Jura, promovierte 1975 in Heidelberg zum Dr. jur. und habilitierte in Freiburg/Brsg. zum Professor für Öffentliches Recht. Er lehrte an den Universitäten in Bonn, Frankfurt/Main und Berlin und war von 1987 bis 2006 Richter am Verfassungsgerichtshof. Seinen Erfolg als Schriftsteller hatte er ab 1987 - inzwischen veröffentlichte er einige Sachbücher und vierzehn Romane, für die er zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhielt. Der Vorleser  (1995) wurde zu einem internationalen Bestseller. Heute lebt Schlink in New York und Berlin. 

Gleich mehrere brisante Themen behandelt der Autor in diesem Roman. Es geht einerseits um die Liebesbeziehung mit einem Minderjährigen, der es danach nie mehr schafft, eine normale Beziehung einzugehen, andererseits um die Verbrechen in den Konzentrationslagern während der NS-Zeit, deren Aufarbeitung und Bewältigung äußerst schmerzlich ist und wohl nie ganz abgeschlossen sein wird, und ein drittes nicht minder wichtiges Thema ist Analphabetismus mit seinen Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen.  

Die Geschichte ist in drei Teilen aufgebaut. Wir verfolgen die Entwicklung des Protagonisten vom 15jährigen Schüler zum Jurastudenten und schließlich zum Rechtswissenschaftler. Der Schreibstil ist klar, präzise und von großer Intensität. Der Autor lässt Michael Berg selbst erzählen, so dass man als Leser sich in seine Gedanken und Gefühle hinein versetzen kann. In der Figur von Hanna Schmitz wird dem Leser klar, dass es verschiedene Gründe geben kann, einen Menschen dazu zu bringen, andere zu töten, was ihn jedoch nicht von Schuld und Verantwortung für sein Handeln freispricht. Mehr als einmal stellt sich während des Lesens die Frage: Wie hätte ich gehandelt? Was hätte ich getan? Man denkt darüber nach und stellt fest, dass das Thema Schuld von mehreren Seiten beleuchtet werden kann und jeder für sich selbst entscheiden muss.

Fazit: Ein gutes und wichtiges Buch, das in keinem Bücherschrank fehlen sollte.