Rezension

Onlinegaming für Anfänger und Fortgeschrittene - Ruff, taff und rough

88 Namen -

88 Namen
von Matt Ruff

Matt Ruff ist seit „Fool on the Hill“ und „G.A.S.“ als Autor mit lockerer Zunge und dem wohlwollenden Blick für das Skurrile im allzu Menschlichen bekannt. Seit „Mirage“ spätestens befasst er sich auch mit den schmerzhaften Stellen der menschlichen Schwächen und stellt in seinen Texten Gegenfragen: Was wäre wenn? Ist das so? Bist du so? Dass der bekennende Nerd Ruff mit diesen Fragen bei den Internet(games) landen würde, war abzusehen. Wo, wenn nicht hier, spielen Identität und Herkunft, Sein und Wunsch gleichzeitig eine so große Rolle wie gar keine? Im Internet kann jeder jeder sein – sich etwa 88 Namen und damit 88 Gamingidentitäten zulegen.

John Chu ist ein geschäftstüchtiger Sherpa, das heißt, dass er Noobs und anderen Leuten, die für Abkürzungen und absurde Level-ups Geld hinlegen wollen (und können) den Fremdenführer, Siegpunktedealer und Gagdetsupporter gibt. Gegen echtes Geld, versteht sich. Hier verschränken sich virtuelle Wirklichkeit und Real Life, hier wird die Kommerzialisierung des Internets auf Userebene thematisiert wird: dass virtuelle Gewinne und Gadgets im Real Life (TM) mit Geld bezahlt werden und dass der digital native John Chu daraus ein Geschäftsmodell gemacht hat. Die Hoffnung, dass die Beschreibung dieses Phänomens in gesellschaftlich Relevanz kontextuiert wird, womöglich gar als virtuelle Kapitalismuskritik, zerschlägt sich aber bald. Und damit ist dann auch recht schnell klar, dass Ruff aus der Rolle des Beschreibers nicht heraustritt – ob er nicht will oder nicht kann, sei dahingestellt. Aus dem Spiel geliehener, falscher, doppelter, gegensätzlicher, inexistenter, realer, sexueller oder künstlicher Identitäten macht der Roman nichts. Die interessanten Absätze zur Genderdiskussion, zur Gewalt im virtuellen Raum und zu sexuellen Quantensprüngen auf dem Holodeck wirken fast wie Fremdkörper – letztlich zähle ja vor allem Kompetenz, Spielkompetenz nämlich. (Die fehlt mir völlig, ich wäre zu blöd, ein Onlinespiel-Massaker länger als drei Sekunden zu überleben, selbst im Schlumpfdorf.)

Zwei Sterne kullerten hier aus der Konsole, einen fing der Roman aber wieder ein, weil „88 Namen“ seicht oberhalb der Einerleilinie wenigstens spannend ist. Der Spannungsbogen im Sherpageschäft steigt dank des Auftraggebers Mr. Jones gewaltig von "Geld spielt keine Rolle" zu "wir zahlen das Doppelte". Puh!

Ich hatte viel Spaß beim Lesen, finde die Gamerwelt, soweit ich sie kenne, genial getroffen, grusele mich vor der virtuell enthemmten Darla und genieße die auf die Settings angepassten Tonfälle. Das Durchschreiten unterschiedlicher Multiplayer-Online-Spiele ist wie das Reisen durch unterschiedliche Welten, und Ruff wäre nicht Ruff, wenn aus den Zeilen nicht die eine oder andere Brachialkomik springen würde.

Es bleiben trotz des Lektürevergnügens – neben der verschenkten Identitätsproblematik – drei große Kritikpunkte übrig (und montieren den vierten Stern wieder ab):

Das Finale ist mehr als nur das Ende eines Romans, lieber Mr. Ruff. Es sollte auflösen, überraschen, versöhnen und abrunden. Plötzlich aus der vollständig online erzählten Handlung in die reale Welt zu wechseln, sollte wohlüberlegt sein.

Die vollständige Durchgenderung aller Figuren, die klarsichtig „woke“ gestaltete Diktion und die überkorrekte politische Korrektheit sind offensichtlich aus dem öffentlichen Diskurs linker Democrats in den Roman gesickert, allerdings leider völlig ungebrochen.

Mom ist kein cooler Deus ex machina. Niemals, egal wie cool Mom ist.

Aber sei’s drum. Wenn die Fortsetzung „Nur noch 84 Namen“ kommt, werde ich sie dennoch sofort lesen wollen.

Kommentare

Emswashed kommentierte am 24. Januar 2021 um 11:08

"Aber sei’s drum. Wenn die Fortsetzung „Nur noch 84 Namen“ kommt, werde ich sie dennoch sofort lesen wollen."

Haha, sehr sympathisch!