Rezension

Krimi mit ganz viel 60er Jahre Lebensgefühl

Kings of London - William Shaw

Kings of London
von William Shaw

Bewertet mit 4.5 Sternen

»Er näherte sich dem Toten, holte tief Luft, ging in die Hocke und versuchte, ihm etwas Staub aus dem Gesicht zu wischen. In Verbindung mit dem Wasser, das die Feuerwehrleute überall verspritzt hatten, hatte sich daraus eine Kruste gebildet. Die Haut war in der Hitze des Feuers geröstet worden, aber nicht verkohlt wie bei der anderen Leiche. Dafür war sie von den Oberarmen bis zu den Handgelenken heruntergeschält. Nicht vorsichtig. Ganze Muskelfasern waren ausgerissen, und Reste davon hingen lose und verschmort herunter.«

London, November 1968. Die ganze Stadt ist in Bewegung. Zwischen Hippiekommunen, Hausbesetzern und den Beatles fühlt Detective Sergeant Cathal Breen sich mich seinen 32 Jahren schon mächtig alt. Und nun das! Der junge Mann, der dort verbrannt und verstümmelt vor ihm liegt, entpuppt sich nicht nur als Playboy und Kunstsammler, sondern auch als Sohn eines hochrangigen Labour-Politikers. Eine normale Ermittlungsarbeit ist kaum möglich und dabei hat Breen noch so viele andere Probleme: Sein Vater ist gestorben, irgendjemand schickt ihm anonyme Morddrohungen und seine Kollegin Helen Tozer hat gekündigt und wird London in wenigen Tagen verlassen.

 

Ich war gespannt auf dieses Buch, da mir schon der Vorgängerband „Abbey Road Murder Song“  gut gefallen hatte. Auch diesmal wurde ich nicht enttäuscht, ich erlebte einen tollen Krimi, eingebettet in eine Rahmenhandlung voller 60er Jahre Lebensgefühl. Breen ist im Grunde ein Außenstehender, der sich mit der „modernen Zeit“ schwer tut, daher viel beobachtet, schildert und hinterfragt. Das war für mich sehr interessant zu lesen und häufig auch unterhaltsam…

Mitten im Zuschauersaal stand ein Pärchen händchenhaltend auf und ging zur Bühne. »Das ist John mit der Japanerin«, sagte jemand. Breen hatte keine Ahnung, was vor sich ging. Die Japanerin sagte etwas ins Mikrofon, aber ihre Stimme war sehr leise, und Breen konnte es nicht verstehen. Dann kroch sie mit John Lennon unter das große weiße Laken und blieb dort sitzen, unsichtbar. »Was machen die da?« »Setzen sich in einen Sack.« »Wieso?« »Aus Protest.« »Wie kann man denn in einem Sack protestieren?« »Das ist Kunst.«

 

Detective Constable Helen Tozer ist einige Jahre jünger, liebt ihren Minirock, die Beatles und hat keine Probleme damit, in der Szene „mitzuswingen“. Dafür hat sie andere Probleme, die größtenteils daraus resultieren, wie die Rolle der Frau bei der Polizei angesehen wird. Immer noch darf sie nicht Auto fahren und soll ihre Tätigkeit darauf beschränken, mit Kindern und weiblichen Zeugen oder Verdächtigen zu reden. Von der „richtigen“ Polizeiarbeit soll sie sich fernhalten – ein unerträglicher Zustand für Tozer…

Tozer blieb an der Ecke stehen. »Und wenn ich noch mal alleine zurückgehe?« … »Wäre einen Versuch wert«, sagte Breen. »Du machst wohl Witze?«, sagte Jones. … »Die kann doch nicht verdeckt ermitteln.« »Macht sie ja auch nicht. Sie sieht sich nur um.« »Das ist eine Frau, du liebe Zeit, Paddy!«

 

Aber nicht nur in der Art, wie sie ihre Kolleginnen ansehen, bekommt die Polizei ihr Fett weg. Weitere Themen sind Korruption und Gewaltbereitschaft, so dass die Rollen von Gut und Böse wirklich nicht fest besetzt sind. Auch das war wieder ein Punkt, der mir sehr zusagte.

»Die arme Frau in Margate. Ich denke die ganze Zeit an sie. Sie hat so eine Scheißangst, aber ich glaube trotzdem, dass sie vor uns genauso viel Angst hat wie vor den Bösen.« »Vielleicht sind wir ja die Bösen«, sagte Breen. »Ich meine, nicht wir. Aber die Polizei.«

 

Die Krimihandlung gefiel mir ebenfalls sehr. Sie brachte Überraschungen, war schlüssig und erfreute mit einem richtig spannenden Ende. Ich könnte mir vorstellen, dass das, was ich als Rahmenhandlung bezeichnet habe, für den einen oder anderen Leser zu umfangreich ist. Für mich, die ich die damalige Zeit und ihr Lebensgefühl hochinteressant finde, war aber alles prima und ich habe mich mit diesem Buch keinen Moment gelangweilt. Die Kenntnis des vorherigen Bandes ist nicht notwendig, alle Dinge, auf die Bezug genommen wird, werden kurz erklärt, so dass es keine Verständnisschwierigkeiten geben sollte. Im Anhang gibt es noch einige Erklärungen und Hinweise zu den zeitgeschichtlichen Bezügen. Der Schluss lässt auf einen weiteren Band mit Breen und Tozer hoffen – ich werde sicher wieder dabei sein.

 

Fazit: Krimi mit ganz viel 60er Jahre Lebensgefühl. Für mich ein großes Lesevergnügen.