Rezension

Klare Leseempfehlung

Welten auseinander -

Welten auseinander
von Julia Franck

Bewertet mit 5 Sternen

Sehr dicht und detailverliebt - für hochkonzentrierte Leser mit einem guten Gedächtnis

Das Buch von Julia Franck kaufte ich aufgrund der Empfehlung einer lokalen Buchhändlerin. Es ist sehr dicht geschrieben, so dicht, dass ich etwas tat, was ich zuvor noch nie tat: Ich las das Buch unmittelbar nach Beendigung sofort ein zweites Mal und zeichnete einen Stammbaum der Familien Franck, Steinnitz, Hunzinger usw. mit circa 35 Personen, die teilweise über die ganze Welt verteilt leben bzw. emigrierten, um jederzeit während der Lektüre den Überblick zu haben.
Der Titel ist eine Metapher mit ganz unterschiedlichen Referenzen. Er symbolisiert eine Trennung, einen Bruch – einen Graben zwischen Vergangenheit (Kindheit) und Erwachsensein, zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen behütetem Aufwachsen und Verlusten, zwischen unterschiedlichen Weltansichten, Lebensentwürfen und Blicken auf das Leben.
Es geht um das (ewige) Aussteigen und die (Sehnsucht nach dem) das Ankommen, wobei letzteres auch nur immer ein vorübergehender Zustand zu sein scheint. Ankommen ist ein ORT; an dem man nicht “stört”, gewollt ist ,angenommen und geliebt wird. “Wir wollten zumindest gelitten, wenn nicht angenommen sein” (84). 
Die Protagonistin Julia wird als Zwilling von Cornelia 1970 in Ostdeutschland geboren, sie ist eines von fünf Kindern ihrer Mutter Anna und erzählt via ständigen Rück- un Vorblenden ihre Kindheit, ihre Begegnungen, ihre Verluste.Ihre Kindheit/Jugend ist hart. Die Kinder müssen sich ihr Taschengeld früh selbst verdienen, sind “Zeugnis des Lebenswandels ihrer Mutter Anna”, die auf Körperpflege, Erziehung keinen Wert zu legen scheint. Die Kinder sind oft sich selbst überlassen, werden nicht gesehen, “ihre Bedürfnisse verstummen”, sie ziehen sich in eine “Blase” zurück und werden “unerreichbar”. Sie wachsen ohne “die traditionelle Architektur einer Kernfamilie auf” (328). Es bleibt alles in der Familie: Auch Mutter Anna ist eine von den Eltern Verstoßene, Entwurzelte, Haltlose (Epigenetik), sie kann ihren Kindern keinen Halt, keine Stabilität, keine Beständigkeit geben. 
Julias Großmutter, Inge, Verfolgte des des Naziregimes, die nach einem Exil auf Sizilien 1950 wieder nach Ostberlin zieht und ab 1958 für die Stasi tätig ist, ist für Julia eine Heldin: “In ihren Heldengeschichten hatte Inge stets für die richtige Sache gekämpft, Zivilcourage bewiesen, Sich für die Armen und Arbeiter eingesetzt” (48).
Julia beginnt zu erzählen, als ihr Freund Stephan, den sie in der elften Klasse kennenlernt, ihr “in ihre alte Welt folgt”, gegenseitig erzählen sie sich ihr Leben, ihre Kindheit, ihre Jugend, versuchen die Welten auseinander überein zu bringen. Mit ihm lässt Julia ihre “Unerreichbarkeit” hinter sich. Die Schilderung Julias Kindheit macht betroffen und streckenweise traurig. Die Kinder empfinden sich als “Störfaktoren”, ihr Zuhause als “Chaos, Irrenhaus”sind ständig auf der Suche nach einem Ort, landen bereits mit 8 Monaten bei einer Pflegemutter, dann im Kinderheim. Ihr Vater “Jürgen”, dem die Zwillinge 10 Tage anvertraut werden, ist mit ihnen überfordert. Julia gelingt die Flucht. Sie kommt zunächst bei Freunden, Steffi und Martin, dann in einer WG und später bei einem Kameramann, ihrem Geliebten, unter. Julia lehnt ihre Mutter Anna ab, ihre Not und Scham der Kindheit sind in “20 Tagebüchern abgelegt (…) zum besseren Vergessen”. 
Es ist nicht leicht, etwas aus diesem Buch zu berichten, ohne zu spoilern. Das Ende ist bewegend. Es ist eine große Geschichte zwischen Ost und West, durch das 20. Jahrhundert. Von einer ständigen Suche, Verlusten von Heimat, von Menschen, dem verzweifelten Versuch, menschliches Verhalten aus der Retrospektive zu verstehen und endlich irgendwo anzukommen.
Was mich bei der ersten Lektüre gestört hat, war das viel zu dichte dritte Kapitel ab S. 43, viel zu viele Verwandte und Details, sodass man droht völlig den Überblick zu verlieren, wenn man sich keine Notizen macht bzw. die Informationen zu vergessen. Mir war es auch viel zu viel Springerei, Vor- Rückblende, Vor- Rückblende Lebensgeschichte Großmutter Inge seit Geburt, dann Urgroßmutter Lotte, dann kommt wieder die Geschichte von Großmutter Inge. Teilweise werden Fakten wiederholt, Episoden, verwirrend und unnötig (vgl. Auch S. 56/59). Julia Franck hätte ggf. gut daran getan, den jeweils wichtigsten Personen ein ganzes Kapitel zu widmen und nicht so zu springen. Ich würde auf jeden Fall eine zweite Lektüre unmittelbar im Anschluss empfehlen. Das Cover ist m.E. unpassend.
Es ist ein tolles Buch. Sprachlich anspruchsvoll, keine Strandlektüre und für Leser, die sich beim Lesen auch einmal anstrengen möchte, nachdenken, sich konzentrieren. Die Autorin ist sehr “detailverliebt”, metaphorisch. Sehr gelungen finde ich auch den ständigen Perspektivenwechsel zwischen “das Mädchen” (Julia der Kindheit) und “ich”. Der Blick aus der Vogelperspektive gelingt Mir gefallen die ständigen, an sich sellbst gerichteten Fragen: “Hatte ihr familiärer Hoffnungshorizont wie auch die erfahrene Diskriminierung als Frau, Künstlerin, Jüdin in Deutschland sie geweckt? “ (74). Mir gefallen ihre Anspielungen, die Zeitgeschichte (Machenschaften der Stasi/die Verwicklungen) ihre teilweise implizite Ausdrucksweise, der eloquente Sprachstil, Anspielungen, die bei einer zweiten Lektüre bewusster werden, auch die Stelle, an der implizit von sexuellem Mißbrauch die Rede ist, und richtig eingeordnet werden können. Ganz besonders beeindruckend ist dieses Buch auch für Leser, die (teilweise) ähnliche Lebenserfahrungen gemacht haben . Man findet sich  ständig zwischen den Zeilen wieder.