Rezension

Kinder an die Macht

Wir verlassenen Kinder - Lucia Leidenfrost

Wir verlassenen Kinder
von Lucia Leidenfrost

Buchbesprechung zu »Wir verlassenen Kinder« von Lucia Leidenfrost

Diesen literarisch anspruchsvollen Debütroman habe ich im Rahmen einer Leserunde auf Lovelybooks gewonnen. Die 190-seitige, gebundene Ausgabe mit der EAN 978-3-218-01208-9 kostet 19.90 € (inkl. MwSt.) und erschien bereits am 4. Februar 2020 beim österreichischen Buchverlag Kremayr und Scheriau.

Ein abgeschiedenes Dorf. Leere Bauernhöfe. Eine aufgelassene Schule. Die Erwachsenen haben nach und nach das Dorf verlassen. Zurückgeblieben sind die Kinder. Sie empfangen Pakete und Geld. Sie kochen, putzen und pflegen die Großeltern und kleinen Geschwister. Scheinbar soll Krieg herrschen rundherum. Als auch der einzige Lehrer das Dorf verlässt, beginnen die Kinder, ihre eigenen Gesetze und Regeln aufzustellen. Was harmlos beginnt, wird rasch zu einem System aus Gewalt und Macht, dem sich alle zu unterwerfen haben. Nur Mila will sich nicht beugen und wird zur Außenseiterin, die bis zum Ende für das Gute kämpft.

 

Meinung

Beworben hatte ich mich wegen des schön gestalteten Titelbildes und der Inhaltsangabe, die mich stark an Herr der Fliegen erinnerte. Über den Gewinn hatte ich mich auch sehr gefreut. Das Format ist handlich und die Haptik ist für Unterwegs sowie zum Weiterreichen konzipiert. 

Der zeitgenössische Schreibstil hat mich positiv überrascht und gefordert. Da gibt es gar nichts einzuwenden. Den mag ich. Durch die atmosphärische Dichte war ich zwar auch einerseits sehr begeistert, sodass es mich kaum verwunderte, dass die junge Autorin ein Arbeitsstipendium des Förderkreises für SchriftstellerInnen in Baden-Württemberg erhielt, andererseits beförderte die Geschichte als solche äußerst unangenehme und ablehnende Emotionen bei mir zutage. Mir fiel es schwer, das Buch zu Ende zu lesen.

Lucia Leidenfrost lässt ein abschreckendes und düsteres Szenario entstehen. Sie unterstreicht Anonymität, indem sie ihre Protagonisten in einem fiktiven Dorf und einem namenlosen Land rebellieren lässt. Das Geschehen könnte überall stattfinden.

Nachdem zwei Dutzend Kinder im schulpflichtigen Alter von ihren Eltern, die in den Krieg ziehen, verlassen werden, leben diese nach eigenen Gesetzen. Hunger und Langeweile bestimmen zunehmend den Alltag. Dadurch entsteht eine Art naive Anarchie, die wiederum Gewalt und Ausgrenzung mit sich bringt. Das jedenfalls hält die Autorin für möglich. Ich nicht.

Mila ist eines der älteren Mädchen. Sie stellt den personifizierten Wunsch nach Ordnung und Struktur dar. Sie möchte ihre Altersgenossen unterrichten. Aber wenn das Chaos ausbricht, hilft Bildung alleine nicht weiter. Dann muss man zunächst einmal die Ärmel hochkrempeln und dafür sorgen, dass man satt wird. In einer solchen Situation ist sich jeder selbst der Nächste und der Stärkere überlebt, oder übernimmt die Führung.

 

Fazit

Die Autorin hat hier, subjektiv betrachtet, ein eher unglaubwürdiges, sehr dystopisches Szenario entworfen, mit dem ich mich nicht anfreunden kann, weil es meinen eigenen Erfahrungen widerspricht. Wir verlassenen Kinder  halte ich für einen philosophisch provozierenden Bildungsroman, der durchaus das Potenzial besitzt, als Unterrichtslektüre für die Oberstufe wahrgenommen zu werden. Ich vergebe 3 Sterne (5 für das Cover, 5 für den Schreibstil, einen für die negativen Gefühle, die bei mir ausgelöst wurden) und eine Leseempfehlung für Menschen, die gerne Dystopien lesen. Ich konnte dem Roman leider, so sehr ich auch wollte, nichts abgewinnen.

 

Gut zu wissen!

Lucia Leidenfrost wurde 1990 in Oberösterreich geboren. Sie studierte Germanistik, Skandinavistik und Germanistische Linguistik an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Sie erhielt das Start-Stipendium des Bundeskanzleramts Österreich und das Arbeitsstipendium des Förderkreises für Schriftstellerinnen in Baden-Württemberg.

 

 

© 08/2020 MAD-Moiselle  |  Alle Angaben sind ohne Gewähr.