Rezension

Ein Erlebnis

Wir verlassenen Kinder - Lucia Leidenfrost

Wir verlassenen Kinder
von Lucia Leidenfrost

Bewertet mit 3 Sternen

Dieses Buch ist eindrucksvoll und eigen. Ein kühler, vorgeblich simpler Erzählstil schafft dennoch ganz viel Atmosphäre. Blitzlichtartig werden ungewöhnliche Bilder eingeworfen, die eine ganze Geschichte erzählen, wenn man darüber nachdenkt. Das Lesen ist fordernd, aber auch fesselnd.

Man taucht ab in eine sehr bedrückende Situation. In einem Dorf eines beliebigen Krisengebietes werden die Kinder zurückgelassen. Erst bekommen sie noch Briefe und Pakete von ihren Eltern, sind aber zunehmend auf sich allein gestellt. Was hat das für Auswirkungen? Wie entwickelt sich die Gruppendynamik? Können sie ohne Versorger überleben? All das wird hier bestürzende Realität. Die Lektüre ist bedrückend und nimmt den Leser mit.

Allerdings muss man sich damit abfinden, dass die Situation so ist wie sie ist, und die ist nun mal leider absurd. Es werden hinreichend Gründe aufgeführt, warum diese Gegend verlassen wird. Es droht ein Krieg, es gibt kaum Arbeit, wenig Essen, alles nachvollziehbar, aber warum sollte jemand seine Kinder zurücklassen, und zwar nicht nur ein vereinzelter Egoist, sondern ein ganzes Dorf? Das muss man als Tatsache hinnehmen und das fiel mir schwer.

In dieses Buch muss man sich fallen lassen, das geht leicht und man tut es gerne, allerdings muss man oft auch locker über so manchen logischen Stolperstein hinwegsehen, sich treiben lassen, ohne nachzufragen. Dann erlebt man eine ungewöhnliche, schaurige Geschichte, die viel Stoff zum Nachdenken bietet, inklusive der Frage: Was will uns die Autorin damit sagen?

Dazu sehe ich wirklich viele Ansätze in anderen Rezensionen, was natürlich auch eine Qualität des Buches ist. Nur will mir keine davon so recht gefallen. Für mich war es ein eindrucksvoller Ausflug in eine verstörende Welt, die es beinahe geschafft hätte, mich von ihrer Existenz zu überzeugen, aber dann doch leider nicht ganz. Mir fallen so einige Interpretationsmöglichkeiten dazu ein, die immer an irgendeiner Stelle hinken. Wäre nur eine davon schlüssig, wäre ich begeistert von diesem Buch, aber ich kann es drehen und wenden wie ich will, keine Lesart gefällt mir, auch wenn es großartig erzählt ist.

Immerhin kann man ohne Übertreibung sagen: Dieses Buch ist ein Erlebnis.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 29. Juli 2020 um 10:25

"Das muss man als Tatsache hinnehmen und das fiel mir schwer."

Haha.

Nun. Es gibt so Romane, bei denen man hundertfachen Interpretationen ausgeliefert ist. Wie du wohl Der Vogelgott gefunden hättest?

Sursulapitschi kommentierte am 29. Juli 2020 um 10:31

Das Problem sind nicht die vielen Interpretationsmöglichkeiten. Ich denke halt bei jeder: ach ne, das hinkt doch. Da bleibt das Aha-Erlebnis aus.