Rezension

Inhaltlich wie sprachlich beeindruckendes Kammerspiel

Der Schlafwagendiener -

Der Schlafwagendiener
von Suzette Mayr

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Völlig zu Recht wurde der im August beim Wagenbach Verlag veröffentlichte Roman „Der Schlafwagendiener“ bereits in Kanada mit dem Giller Prize ausgezeichnet, dem renommiertesten Literaturpreis des Landes: Auf engstem Raum, in einem einzigen Schlafwagen eines Luxuszuges während einer viertägigen Fahrt quer durch Kanada von Montreal im Osten nach Vancouver im Westen, zeichnet Suzette Mayr (56) auf nur 240 Seiten ein in seiner Komplexität gelungenes Sittenbild des wohlhabenden kanadischen Bürgertums gegen Ende der 1920er Jahre in all seiner Oberflächlichkeit und Überheblichkeit – und dies aus Sicht des jungen, schwarzen Schlafwagendieners R. T. Baxter, wegen seiner Hautfarbe und Homosexualität gleich doppelt stigmatisiert, missachtet und gefährdet.

Noch vom vorigen Einsatz übermüdet, muss Baxter außerplanmäßig die Fahrt nach Vancouver als Schlafwagendiener übernehmen, muss während der kommenden vier Tage und Nächte jeden Wunsch seiner reichen weißen Fahrgäste ausführen, darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben. Denn Gründe für sofortige Entlassung gibt es viele: Illoyalität, Unehrlichkeit, Unmoral, Unbotmäßigkeit, Unfähigkeit, grobe Nachlässigkeit, Unaufrichtigkeit – ausnahmslos nicht überprüfbare, subjektive Kriterien, bei denen Baxter den Fahrgästen und ihren Launen ausgeliefert ist.

Baxter arbeitet und lächelt unablässig, auch wenn es ihm, der intellektuell über manchem Fahrgast steht, gelegentlich schwerfällt. Er braucht doch jeden Dollar, um sein Studium fortsetzen zu können. Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden. „Er erzählt niemandem, dass er die Universität zwei Jahre lang besucht und wieder verlassen hat. Wie es aussieht, um in Zügen für Weiße Klosetts zu putzen.“ Als schwarzer Schlafwagendiener zählt er bei den weißen Fahrgästen nicht. Man nennt ihn nicht bei seinem richtigen Namen, sondern nur „Diener“ oder „George“. Nicht einmal die Damen im Waschraum fühlen sich durch ihn gestört: „Er ist nicht mehr als ein Möbelstück.“ Baxter steht am untersten Ende der Gesellschaft. Es ist fast, als existiere er nicht. Würde seine Homosexualität bekannt, käme er sofort ins Gefängnis.

Nachdem der Zug von einer Schlammlawine aufgehalten wurde, verdichtet sich die Spannung zwischen den ungeduldiger werdenden Fahrgästen. Nur Baxter, der als Schlafwagendiener auch nachts kaum schlafen durfte, darf sich seine totale Erschöpfung nicht anmerken lassen. Doch gelegentlich fällt er in Sekundenschlaf: „Er reibt sich immer wieder die Augen, die rosa und feucht sind wie piepsende Vogelmünder und wenigstens ein einziges Würmchen Schlaf ergattern wollen. … Er ist ein Schlafwagendiener. Ein schläfriger Wagendiener. Schläfriger Diener im Wagen. Wagen schläfrig. Diener. Schlaf.“

Baxter hält sich an die Empfehlung seines schwarzen Ausbilders: „Setz dieses besondere Lächeln auf, … aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt, aber spiel nicht den Onkel Tom.“ Als man Baxter schließlich nur noch „Boy“ nennt, kann er seine Verachtung den Weißen gegenüber, kaum noch verbergen: „Boy. Baxter hebt mühsam die erschöpften Augenlider und nimmt die beiden in den Blick, ein höhnisches Grinsen glitscht über sein Gesicht wie ein Krake aus der Tiefsee, in seiner Brust löst der Hass eine tektonische Verschiebung aus.“

Suzette Mayr offenbart in einem beeindruckenden Kammerspiel – der Roman ließe sich tatsächlich sehr gut auf die Bühne bringen – das Kastendenken jener Zeit zwischen Weiß und Schwarz, die damaligen Gesellschaftsunterschiede und Vorurteile sowie die sich daraus ergebenden Konflikte, die auch nach hundert Jahren wenn auch in abgeschwächtem Maß noch heute nicht nur in Kanada zu entdecken sind. Die Autorin hätte vielleicht den ersten Teil etwas verdichten und dadurch mehr Tempo in die Erzählung bringen sollen, das erst im zweiten Teil stärker anzieht. Dennoch gilt: Mayrs in kurzen, wechselnden Szenen treffend charakterisierten Figuren faszinieren ebenso, wie der Roman insgesamt – nicht zuletzt dank seiner Übersetzerin Anne Emmert – auch sprachlich überzeugt: „Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn weiße Flecken sehen, wo keine sind.“