Rezension

Ganz großes Gefühlskino

Witwe für ein Jahr - John Irving

Witwe für ein Jahr
von John Irving

Nicht immer lohnt es sich, einen Bestseller, mit mehr als 20 Jahren Verspätung zu lesen. John Irvings Buch "Witwe für ein jahr" lohnt die "Mühe", weil die 762 Seiten keine Mühe sind!

Ich gebe es ja zu: Ich bin einer von diesen schrecklichen John-Irving-Fans. Ich liebe Garp und Owen, „Gottes Werk“, das „Hotel“ und die „Letzte Nacht“. Sein neues Buch „Darkness as a Bride“ gibt es noch nicht auf Deutsch, bis dahin habe ich mich mit den 762 Seiten von „Witwe für ein Jahr“ getröstet. Und habe mit der Tragikomödie, die im Jahr 1999 spektakuläre 19 Wochen auf dem ersten Platz der Spiegel-Bestsellerliste stand, eine meiner Irving-Lücken geschlossen.

 

Die Heldin des Romans heißt Ruth Cole. Sie ist erst vier Jahre alt, als der Roman im Sommer 1958 beginnt, daher kümmert sich Irving im ersten Kapitel mehr um Ruths Eltern und um den 16-jährigen Eddie. Der jobbt als Assistent von Ruths Vater, einem Kinderbuchautor, begeistert sich aber besonders für ihre Mutter Marion. Das zweite Kapitel spielt 1990. Ruth wurde eine Bestsellerautorin, Eddie halbwegs erfolgreicher Schriftsteller. Im dritten und letzten Kapitel, das 1995 spielt, werden die losen Fäden aufgenommen, elegant verknüpft und zu einem Irving-typischen Happy End geführt.

 

Dazwischen geht es (übrigens schon vom ersten Satz an) vor allem auch um eines: um Sex. Wobei die Bandbreite von zärtlicher Verführung bis zur Vergewaltigung und gar bis zum Mord an einer Prostituierten reicht. Im Roman ist die Rede vom „Schäbigen, Schmutzigen, Sexuellen und Abnormen“ es besteht aber kaum ein Zweifel daran, dass damit vor allem die Sexualität gemeint ist, die das Böse, Dämonische und Kriminelle unweigerlich mit sich bringt. Alle Figuren sind zudem von einem überaus merkwürdigen Drang beseelt, intime Geheimnisse offenzulegen. Was nicht nur Ruths Mutter in die Flucht treibt, sondern auch eine andere Hauptfigur in den Selbstmord. Ob man mit über 20 Jahren Abstand und dem heute allgegenwärtigen pornografischen Alltag des Internets Irvings (US-amerikanischen?) Puritanismus noch uneingeschränkt nachvollziehen kann, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.

 

Schockierender für mich: Ruth, die vorher ihren muskelbepackten Vergewaltiger krankenhausreif geschlagen hat, beobachtet einen Prostituiertenmord … und sieht (angeblich starr vor Angst) der Ermordung zu ohne einzugreifen. Ist das nun schlicht menschenverachtend oder Ausdruck der Tatsache, dass in Ruths (oder gar Irvings) Augen, das Leben einer Nutte einfach weniger zählt?

 

Dennoch: John Irving hat ein spannendes und unterhaltsa­mes Buch über das Seelenleben der Menschen, über Liebe und Sex, über Verletzlichkeit und Vergänglichkeit geschrieben. Dabei ist es vor allem Irvings Humor, der das das Buch trägt. Der ist mal fein, mal feixend, mal rührend, mal klamaukig, bei aller Komik aber bleibt das Buch berührend, ja ganz großes Gefühlskino.