Es war einmal ein Mädchen, das in einem Fundbüro lebte...
Bewertet mit 4.5 Sternen
Von der Beschreibung her hatte ich mir "Das Fundbüro der Wünsche" ein bisschen vorgestellt wie den Film "Die fabelhafte Welt der Amelie":
Versponnen, märchenhaft, romantisch und hoffnungsvoll. Das Erstlingswerk von Autorin Caroline Wallace ist alles das, aber noch viel mehr. Wer eine süßliche, leicht verdauliche Geschichte erwartet, wird vermutlich enttäuscht sein.
"Das Fundbüro der Wünsche" wird gerade durch seine Ecken und Kanten lebendig. Schmerz, Trauer und Verlust spielen eine zentrale Rolle in der Geschichte (passend zu Marthas Arbeit im Fundbüro) und haben Marthas Leben ebenso geprägt wie das der Menschen, denen sie begegnet. Märchen spielen in Marthas Leben eine wichtige Rolle; tatsächlich erinnert "Das Fundbüro der Wünsche" von den Themen und Charakteren her an die Märchen von Hans Christian Andersen, in denen auch die Traurigkeit immer ihren festen Platz hat.
Anfangs fiel es mir schwer, mich auf die Geschichte einzulassen, weil es eben keine rosarote Disneywelt ist oder Montmartre an einem Sommerabend. Das Liverpool der 70er Jahre ist dreckig, laut und von Existenznöten geprägt. Auf den ersten Seiten des Buches wusste ich nicht mal, wie alt Martha überhaupt ist - eine Sechzehnjährige, die Pirouetten durch den Bahnhof dreht, den sie ihr ganzes Leben lang noch nie verlassen hat, kam mir zunächst seltsam vor, so als hätte die Autorin ihre Protagonistin bemüht "besonders" gestalten wollen.
Schnell wird aber klar, welche traurige Geschichte hinter Marthas irritierenden Äußerungen und ihrem kindlich wirkendem Verhalten steckt. Nur der Rückzug in ihre eigene Phantasiewelt und die Geschichten, die sie um die Gegenstände im Fundbüro spinnt, helfen ihr, die verbalen und körperlichen Misshandlungen ihrer Pflegemutter zu überstehen.
Den roten Faden der Handlung bilden Marthas Plakate, die sie auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern im Bahnhof aufhängt ("Gehe ich recht in der Annahme, dass meine Mutter nicht meine leibliche Mutter war?") und die Antworten des anonymen Briefeschreibers darauf.
Ein zweiter Handlungsstrang entwickelt sich um einen geheimnisvollen Kofferfund: Der erfolglose australische Schriftsteller Max Cole hat auf einem Flohmarkt einen Koffer entdeckt, der aus dem Nachlass des verstorbenen Beatles-Roadies Mal Evans stammt und unschätzbare Erinnerungsstücke an die legendären Musiker beinhalten könnte. Die Authentizität des Fundes will Cole nun in Liverpool prüfen lassen, außerdem mit einem Buch über Mal Evans reich und berühmt werden und im besten Fall auch noch dessen verschollene Urne ausfindig machen.
Am Ende muss der Leser noch einmal richtig um Marthas Wohlergehen zittern, denn je mehr sie sich außerhalb der geschützten Welt um das Fundbüro herum bewegt, desto mehr kommt sie auch mit den Gefahren der Außenwelt in Kontakt, die sechzehn Jahre lang von ihr fern gehalten wurden und denen sie teilweise erfrischend vorurteilsfrei, manchmal aber auch erschreckend naiv begegnet.
Marthas Fundbüro und die Cafébar ihrer Freundin Elisabeth nebenan - von Marthas Pflegemutter nur als "Sündenpfuhl" bezeichnet - bilden einen Ruhepunkt inmitten der hektischen Welt und führen andere "Aussteiger" zu ihnen wie George Harris (Namensähnlichkeit mit dem Beatle beabsichtigt), einen jungen Mann, der das ganze Jahr über eine römische Uniform trägt oder William, der in den Tunneln unterhalb Liverpools lebt und sich hinter seinem schmuddeligen Äußeren vor den anderen Menschen versteckt. Es braucht schon zwei Märchenheldinnen wie Martha und Elisabeth, um durch äußere Erscheinungen hindurch das Gute in den besonderen Menschen zu sehen, die ihnen begegnen.
"Das Fundbüro der Wünsche" zu lesen war für mich wie eine Auszeit in einer Märchenwelt, die ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten hat und sich nicht um das geschäftige und kopflose Treiben der "wirklichen Welt" kümmert. Ich wünschte, es würde viel mehr solcher "Parallelwelten" geben und Autoren, die mutig genug sind, ungewöhnliche neue Pfade zu betreten! Ganz starker Einstand, Caroline Wallace!
Fazit:
"Das Fundbüro der Wünsche" ist ein kleiner Geheimtipp und als Debütroman eine absolute Überraschung! Wer etwas lesen möchte, das er nicht schon hundert Mal in ähnlicher Form irgendwo anders gelesen hat, dem sei "Das Fundbüro der Wünsche" ans Herz gelegt (Beatles-Fans sowieso).
Nicht so verspielt wie "Die fabelhafte Welt der Amelie", sondern ernster und tiefgründiger. Ich musste während des Lesens häufig an den Film "König der Fischer" mit dem leider viel zu früh verstorbenen Robin Williams denken. "Das Fundbüro der Wünsche" ist ähnlich: Phantasievoll, aber auch traurig und mitunter schmerzhaft zu verfolgen. Aber auch das gehört dazu, damit am Ende alles gut werden kann.
Kommentare
Arbutus kommentierte am 21. Dezember 2015 um 22:35
Hallo Knusper Hexe, danke für die schöne Rezi! Ohne die hätte ich mich jetzt wahrscheinlich nicht für die Leserunde beworben, aber was Du schreibst, klingt echt gut!