Rezension

Entfremdung

Zitronen -

Zitronen
von Valerie Fritsch

Bewertet mit 5 Sternen

Kurzmeinung: Valerie Fritsch setzt sich mit diesem Roman ein literarisches Denkmal

Valerie Fritsch beschreibt in einem wirklich schmalen Büchlein einerseits die Kindheit und das junge Erwachsensein des Knaben August Drach, andererseits aber liefert sie in ihrem Roman auch gestochen scharfe Kurzcharakterisierungen und kleine Gesellschaftskritiken und  zeichnet sich durch eine leuchtende Sprache aus. Den Süden beschreibt sie so: „Ein Licht herrschte als hätte man mit einem Mal andere Augen“. 
Die Lebensgeschichte Augusts ist schockierend, es ist eine Geschichte von Kindesmisshandlung, von Gewalt, sowie Vater wie Mutter vergehen sich an dem Kind und auch ein späterer erwachsener Freund kommt ihm nur zag- und mangelhaft zur Hilfe. „Dem Vater fiel er in die Hände, der Mutter in die weit ausgebreiteten Arme“, vom Regen in die Traufe. Kann man es besser sagen? Und der Leser hält die Luft an.
Valerie Fritschs blumig-fulminante Sprache steht in krassem Widerspruch zum äußeren Geschehen und gerade das macht den Roman aus; widersprüchlich wie das Leben selber ist der Roman, denn im Schönen ist auch das Schreckliche zu Hause und umgekehrt. Ich mag es, wie sie Substantive personalisiert, „die verlegene Freude“, „die betrunkene Nacht“ – ja, eigentlich ist dies falsch, aber man weiß sofort, was damit gemeint ist. Und ich mag es, wenn ein Autor etwas wagt. Manchmal ist es vielleicht ein wenig zu viel, zum Beispiel sind „blühende Satelittenschüsseln“ für mich zu viel. Aber auch hier stellte das Bild einen Gegensatz dar.
Es passieren Valerie Fritsch auch Formulierungen, unter denen ich mir nichts vorstellen kann, aber das gehört zum experimentellen Schreiben dazu. Die Österreicherin ist auf alle Fälle keine konservative Erzählerin, aber eine charmante.
August erlebt einiges, als er sein Dorf endlich hinter sich lässt und er schlussfolgert schließlich: „Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen, wenn man die Welt für eine schöne halten wollte.“
Warum heißt der Roman „Zitronen“ und kommen diese leuchtend gelben Früchte immer wieder vor? Sie sind Symbole des Gegensatzes, leuchtend schön, prall und voller Leben und in ihrem unmittelbaren Gefolge das Schreckliche und die Auslöschung gesunden Empfindens. Es fällt einem auch sofort das Sprichwort ein "Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus". Wenn das mal so einfach wäre!
Der Roman ist in seinem depressiven Grundton gesellschaftskritisch in sich. Die wegsehenden Nachbarn, die Folgen der Misshandlungen, die Autorin beschreibt es mehr so nebenbei. So nebenbei wie diese Dinge in der Gesellschaft ja auch geschehen. Auch der Mob findet Eingang in den Roman, die Reaktion der Menge. Die Autorin beschreibt eben nicht nur Augusts Leiden, wie es manche Rezensentinnen bemängeln werden, die Autorin verliere den Fokus, nein, ihr Fokus ist die Gesellschaft. Und da ist August nur ein Teil davon.
Letztendlich geht es um Entfremdung. Entfremdung vom Leben. Valerie Fritsch erweist sich mit „Zitronen“ als  waschechte Existenzialistin als eine moderne Autorin. Vater und Mutter sind sich selbst entfremdet, „Sie (die Mutter) lebte ein anstrengendes Leben unter dem löchrigen Deckmantel eines unangestrengten Tagesablaufs“, auch der Vater ist sich fremd. Und August, eigentlich ein ganz normales, aufgewecktes Kind wird ein Erwachsener, der sich selbst und dem Leben ohnmächtig und hilflos gegenübersteht, unfähig zur Eigeninitiative, ein ratloser Reagierender. Seine Erziehung wird sich rächen, das Muster sich wiederholen. 

Fazit: Dieser Roman hat alle meine Erwartungen übertroffen. Es ist in gewisser Weise ein experimenteller, existentialistischer Roman. Ein echter Deutscher Buchpreisanwärter und auf seine Weise ein kleines Meisterwerk. 

Kategorie: Anspruchsvolle Literatur
Suhrkamp Verlag 2024