Rezension

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Eine unheilvolle, irritierende Geschichte

Der Vogelgott
von Susanne Röckel

Bewertet mit 3 Sternen

Der ehrgeizige Hobbyornithologe Konrad Weyde ist einem geheimnisvollen Vogel Greif auf der Spur. Er will ihn jedoch nicht nur beobachten und erforschen, sondern – ganz Mensch – besitzen. Trotz der eindringlichen Warnungen der Einheimischen ist seine Jagd erfolgreich und der mysteriöse Vogel endet als Trophäe präpariert in seiner Sammlung.
Jahre später gerät Weydes jüngster Sohn Thedor während eines Auslandsaufenthalts im Zuge seiner Arbeit bei einem Hilfsprojekt in die Fänge eines geheimnisvollen Vogelkultes. Seine Schwester Dora verliert sich in den Recherchen zu einem Madonnengemälde und stösst dabei auf unfassbare Greultaten der Vergangenheit. Der älteste Sohn Lorenz ist Jounalist und soll den tragischen Tod eines Kindes beleuchten. Dabei findet er heraus, dass es etliche ähnliche Todesfälle gibt und sämtliche Spuren führen zu einem seltsamen Arzt im Städtischen Klinikum. Dunkle Schwingen überschatten die Geschichte der Familie Weyde – unheilvoll, düster und verstörend.

Leseeindruck

Mit "Der Vogelgott" hat die 1953 geborene Susanne Röckel einen sprachlich wunderbaren Roman verfasst, der zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 gelandet ist. Die Geschichte lässt sich schwer umschreiben, ist am ehesten wohl ein modernes Schauermärchen und besticht durch einen kafkaesken Stil.

Der Leser begleitet die Familie Weyde, angefangen bei Vater Konrad, der sich der Ornithologie verschrieben hat. Seine Familie führt er mit strenger Hand, lediglich dem jüngsten Sohn Thedor gegenüber lässt er Milde walten. Und so genießt dieser ein zielloses, unstrukturiertes Dasein, bricht das Studium ab und treibt durchs Leben. Thedor fehlt so offensichtlich das "o" im Namen wie ihm Rückgrat und Perspektive fehlt. Er ist ein Träumer. Dora, seine ältere Schwester, wäre am liebsten Künstlerin geworden, doch unterstützte der wissenschaftlich orientierte Vater dieses Vorhaben nicht. Lorenz musste schon früh einen sehr steinigen Weg beschreiten, denn die schwere Krankheit der Mutter zwang ihn dazu, Geld für die Familie zu verdienen und so seine eigene Wünsche hinten an zu stellen. Die vier unterschiedlichen Charaktere und ihre Geschichte beschreibt Röckel jeweils in einem eigenen Kapitel. Sie alle geraten in die Fänge des titelgebenen Vogelgottes. Wie und weshalb, das sollte der Leser selbst erkunden.

Dieser Roman liest sich fantastisch. Die Sprache ist wunderschön (besonders im Prolog), durchzogen von zahlreichen Bildern, in denen die Autorin Landschaften, Gefühle und Gedanken gekonnt umschreibt. Ein Genuss, der ganz im Gegensatz zu dem stets im Hintergrund lauernden Unheil der Geschichte steht. Das ist nicht nur faszinierend, sondern übt auch eine starke Sogwirkung bei der Lektüre aus. Es ist das nicht Greifbare, das verstört und gleichzeitig fesselt. Während man diesen Roman liest, gerät man in einen regelrechten Wahn (wie die Figuren selbst), ist gefangen im Strudel der Geschehnisse und wird mitgerissen. Und doch ist die Stärke des Romans gleichermaßen auch seine größte Schwäche, denn der Leser droht sich zu verlieren. Gleich den Geschwistern Weyde, die als Kinder ein eigenes Spiel erfunden haben, das sie "Verschwinden" genannt haben, hat der Leser das Gefühl zu Verschwimmen.

"So bestand auch unser Spiel darin, uns unsichtbar zu machen. Allmählich hatten wir die Lust daran verloren, uns von irgendjemand finden zu lassen, und gaben uns ganz dem sonderbaren Gefühl dieses entkörperlichten Daseins, dem Verschwimmen und Verschwinden im Grau der Dämmerschatten hin, ein Genuss, dem womöglich ein archaischer Instinkt, die Ahnung der Möglichkeit schwebender Kräfte, aufgelöster Grenzen zugrunde lag. Doch er ging auch mit Angst und Beklommenheit einher. Es war, als könnte uns, je länger wir uns dem Spiel widmeten, die Fähigkeit der Rückverwandlung abhandenkommen, (...)."

Was ist real, was ist Traum oder Einbildung? Haben die Dinge, die den Weydes widerfahren, religiöse Wurzeln? Mythologie oder Aberglaube? Ist die Familie verflucht durch die Taten des Vaters? Oder ist alles Schicksal und vorherbestimmt? Mit all diesen Fragen sieht sich der Leser ständig konfrontiert, sie zu beantworten überlässt die Autorin ihm allein. Sie erzählt eine dunkle Geschichte, die spannend unterhält aber auf ihre Weise auch verstört, und über allem liegt ein grauer Schleier, den die Autorin niemals hebt.
Und so bleibt nach der Lektüre ein seltsames Gefühl der Ausgelaugtheit, der Enttäuschung über die offenen Fragen aber auch der Zufriedenheit, eine so gut konzipierte, sprachlich herausragende Geschichte gelesen und gelebt zu haben, die viel abverlangt, aber auch viel gibt und noch lange nachhallt.

"Vielleicht müssen wir verschwinden, dachte ich ganz ruhig, vielleicht wird erst alles gut, wenn wir nicht mehr da sind."

Fazit

Ein spannender, düsterer, sprachlich herausragender Roman, bei dem der Leser an die Grenzen der Wahrnehmung stößt. Wahn und Wirklichkeit sind individuell deutbar und eine Frage bleibt: "Wer ist es, der uns sucht, uns jagt?"