Rezension

Ein historischer Roman wie im Zeitraffer geschrieben...

Sein Sohn -

Sein Sohn
von Charles Lewinsky

Ein historischer Roman wie im Zeitraffer geschrieben, ohne dass man etwas vermissen würde - eine Kunst für sich. Flüssig, süffig, spannend.

Louis Chabos wächst in einem Kinderheim in Mailand auf. Nachdem er in Napoleons Russlandfeldzug den Krieg kennengelernt hat, möchte er nur noch eins: endlich zu einem menschenwürdigen Leben finden und Teil einer Familie werden. In Graubünden erlangt er ein kleines Stück des erhofften Glücks. Doch das verspielt er, als die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater ihn nach Paris ruft und er zwischen Prunk und Schmutz seine Bestimmung sucht. (Klappentext)

Wer sagt, dass historische Romane immer dicke Schinken sein müssen? Das ist in der Tat häufig so und mit einer der Gründe, weshalb ich von diesem Genre in der Regel die Finger lasse. Dass es auch anders geht, beweist Charles Lewinsky mit diesm Roman, der wie im Zeitraffer geschrieben wurde und doch nichts vermissen lässt. Großes Kino!

Louis Chabos wird 1794 geboren und wächst anschließend in einem Mailänder Kinderheim auf - 18 Jahre wurde für ihn im Voraus gezahlt, von wem auch immer. Chronologisch wird  von einem auktorialen Erzähler über das Leben des Louis berichtet, wobei er jeweils einzelne bedeutsame Szenen auswählt und von da aus weiterspringt, manchmal sehr rasch, und z.T. gleich mit einem Sprung über mehrere Jahre. Mit der Verarbeitung von traumatischen Ereignissen hält sich Charles Lewinsky jedenfalls nicht auf -  so war es damals eben. Hier zählt das reine Überleben. 

Der Lebensweg des Louis ist alles andere als stringent, der Zufall entscheidet häufig über den weiteren Fortgang. So gibt es bereichernde Begegnungen, aber auch einschneidende Erlebnisse, die dem jungen Mann sehr zu schaffen machen. Nach schrecklichen Kriegserlebnissen in Russland, die Louis fast den Lebensmut kosten, sehnt er sich nach einem ruhigen Leben und findet dies in Graubünden in der Schweiz. Sein offenes, freundliches Wesen schmälert das Misstrauen der Bewohner des kleinen Dorfes, und so erlebt Louis erstmals so etwas wie ein friedliches Zuhause.

Schließlich treibt es ihn aber wider alle Vernunft weiter, eine Spur seines Vaters scheint gefunden, Louis will ihn aufsuchen und kennelernen. Der Weg für ins laute, schmutzige, choleraverseuchte Paris mit seinen vielen armen Menschen. Doch Louis lässt sich in seinem Weg nicht beirren...

Der häufig stakkatomäßig anmutende Schreibstil in kurzen Hauptsätzen passt zu dem enormen Tempo, in dem die dialoglastige Geschiche erzählt wird. Der Roman ist flüssig, süffig und spannend zu lesen, die Figuren sind aufgrund der Schnelligkeit der Erzählung oftmals nur oberflächlich gezeichnet, wirken aber trotzdem interessant. Atmosphärisch ist der Roman in meinen Augen jedenfalls sehr gelungen. 

Einzig den letzten Abschnitt in Paris empfand ich als zu gehetzt angesichts der vor Menschen und Eindrücken überbordenden Stadt. Und die Figurenentwicklung von Louis in diesem letzten Abschnitt war in meinen Augen zu krass, relativiert allerdings durch die Bemerkung einer Teilnehmerin der Leserunde, dass ein bestimmtes Ereignis tatsächlich stattgefunden habe und wohl noch in der Geschichte platziert werden sollte.

Eingebettet ist die frei erfundene Geschichte in zahllose reale historische Bezüge, die zum Nachforschen im Internet anregen. Dabei versäumt es Lewinsky auch nicht, Kritik an politisch-gesellschaftlich-wissenschaftlichen Entwicklungen der damaligen Zeit zu äußern sowie erkennbar aktuelle Bezüge zur Gegenwart einzustreuen (Flüchtlingsproblematik, Pandemiegeschehen). Schöne Merksätze gibt es obendrauf.

Flankiert wird der Roman durch eine Rahmenhandlung: das erste Kapitel schließt im Grunde an das letzte an, so dass der Leser / die Leserin bereits vorab weiß, wie der Roman endet. Die letzten vier Zeilen des letzten Kapitels sind zudem die ersten vier des ersten Kapitels, was ich als einen besonders gelungenen Kniff empfand.

Lewinsky ist ein Geschichtenerzähler in bestem Sinne. Wie die Notiz auf der allerletzten Seite des Romans verrät, gab es vor Beginn des Schreibens nur eine einzige gesicherte Information. Alles andere ist Errfindung. Hut ab!

 

© Parden