Rezension

Das Leben findet sich in der Mülltonne

Das glückliche Geheimnis -

Das glückliche Geheimnis
von Arno Geiger

Arno Geiger kann’s nicht lassen. In der Frühe steigt er in die Altpapiertonnen der Stadt auf der Suche nach literarischen Schätzen und dem Sinn des eigenen Tuns. Was dieses Hobby für einen Einfluss auf sein Leben sowie sein eigenes Schaffen hat, damit befasst sich Das glückliche Geheimnis. Lesenswert und spannend geschrieben.

Kürzlich in einem von Touristen überfluteten Split, wo wir in einem Café sassen, gegenüber das alte Rathaus mit seiner prächtigen venezianischen Fassade und der von drei Spitzbogen getragenen Loggia. In dieser Loggia hantierte ein Mann mit allerlei Tüten, sortierte leere Flaschen aller Art, inspizierte sie hin und her, war schwer damit beschäftigt und kümmerte sich nicht um all die Menschen, die vorbeiwuselten oder ihn aus einem Café beobachten mochten. Später in derselben Stadt eine ältere Frau auf der Suche nach Essen in einem Abfalleimer. Bei einer Führung durch die Reste der einstigen römischen Diokletianspalastes wurde uns gezeigt, in welcher Palastecke solche Müllsammler leben, was wir übrigens auch leicht an den mit Plastikflaschen gefüllten Tüten auf den abbröckelnden Balkonen hätten erkennen können, auf die die Führerin deutete. 

In dieser unserer Zeit, die sicher als die Abfallorgienepoche in die Geschichte eingehen wird, sofern es in Erdzukunft sowas wie Geschichte noch geben sollte, dürfen wir dankbar sein um jeden, der sich dem Müllsammeln und -verwerten verschrieben hat. Selbst dann, wenn er das aus Not tut. (Ja, ich würde geradezu dafür plädieren, eine hochdotierten Müllsammlerpreis zu kreieren und übergebe diese Idee den Herren und Damen vom Nobelpreiskomitee.) 

Und mit diesem eleganten Bogen wäre ich nun bei einem mit zahlreichen Preisen gekrönten Autor angelangt, nämlich beim Österreicher Arno Geiger. Schon mit dem «König in seinem Exil» hat er uns mit Autobiografischem nachhaltig beeindruckt. Damals ging es um seinen an Alzheimer erkrankten Vater. In «Das glückliche Geheimnis» befasst sich der Autor mit sich selber. Und dem Sammeln von Müll. Genauer gesagt papierenem Müll. Jahrzehntelang, so gesteht der Autor, habe er sich insgeheim durch Papiermülltonnen gewühlt. Angefangen habe er dieses Hobby als Student in Wien. Er habe Bücher gefischt, und diese auf dem Flohmarkt verkauft, um sich sein Leben als noch unbekannter Schriftsteller leisten zu können. Dabei sei er auch auf Schätze gestossen. Und mit der Zeit habe er seine Streifzüge durch die Tonnen auch gar nicht mehr lassen mögen. 

Nicht nur Bücher trug Arno Geiger nach Hause, auch Bilder und zahlreiche Briefkonvolute. Wir dürfen davon ausgehen, dass seine Texte durch seine Funde, vor allem durch die Briefe, inspiriert und beeinflusst wurden. Auch dass der ganze Mensch Geiger durch seine Tätigkeit als Müllsammler geprägt wurde, ebenso wie seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Und wir können uns unschwer vorstellen, wie es für ihn seine musste, als bereits arrivierter Autor auf seine Sammeltouren zu gehen, immer mit der Angst, von jemandem erkannt zu werden. Doch das seltsame Tun macht Sinn: sein regelmässiges Abtauchen in Papiercontainer gibt dem Autor Halt, Richtung, Frieden. 

Nun ist es natürlich gesellschaftlich betrachtet zweierlei, ob ich im Müll nach Pizzaresten oder PET-Flaschen angle oder nach literarischen Fundstücken oder brieflichen Zeitdokumenten. Dies dürfte auch Arno Geiger bewusst sein, wenn er nun mit seinem «Coming out» in den Bücherregalen steht. Mutig ist dieses Buch alleweil. Und saugut geschrieben. Für gewöhnlich sind mir literarische Selbstbespiegelungen ein Graus. «Das glückliche Geheimnis» unterscheidet sich aber von den üblichen Selbstdarstellungen: Ich hatte beim Lesen immer das Gefühl, dass es Geiger um Wahrhaftigkeit geht und nicht darum, Dinge schönzureden. Sein Buch widmet sich nicht nur der Frage, woher der Schriftsteller seine Inspiration nimmt. Es geht auch um Selbstverständnis und wo einer in der Gesellschaft und im Privaten steht, wofür er sich begeistert und was ihm wirklich wichtig ist. Um Beziehungen und was sie trägt. Darum, was das Menschsein ausmacht. Darum, wo Offenheit vonnöten ist ­– und darum, dass ein Geheimnis auch glücklich machen kann. Ein Buch also, das den Menschen als Individuum wahrnimmt und sein Menschsein in all seinen Eigenheiten wertschätzt. Und vor allem geht es um die Suche nach einem Leben, das zu einem passt.

Titel: Das glückliche Geheimnis, 237 Seiten, gebunden

Autor: Arno Geiger

Verlag:  Hanser, 2023

ISBN 978-3-446-27617-8, SFr. 30.70, 25.– €