Rezension

Auftrieb und Absturz

Lebensstufen
von Julian Barnes

Bewertet mit 4.5 Sternen

Julian Barnes’ neues Buch handelt von Ballonfahrt, Fotografie, Liebe und Trauer. Davon, dass man zwei Menschen oder zwei Dinge verbindet und sie wieder auseinanderreißt. Einer der Juroren für den Man Booker Prize nannte Julian Barnes einen »beispiellosen Zauberer des Herzens«. Das vorliegende Buch bestätigt dies. Julian Barnes schreibt über die menschliche Existenz – auf der Erde und in der Luft. Wir lernen Nadar kennen, Pionier der Ballonfahrt und einer der ersten Fotografen, die Luftaufnahmen machten, sowie Colonel Fred Burnaby, der zum eigenwilligen Bewunderer der extravaganten Schauspielerin Sarah Bernhardt wird. Und wir lesen über Julian Barnes’ eigene Trauer über den Tod seiner Frau – schonungslos offen, präzise und tief berührend. Ein Buch über das Wagnis zu lieben. (Verlagsseite) 

Drei Teile:
> Die Sünde der Höhe
> Auf ebenen Bahnen
> Der Verlust der Tiefe

In „Die Sünde der Höhe“ erzählt Barnes von den Anfängen der Ballonfahrt, den Erfindern und Abenteurern, spinnt das Thema in „Auf ebenen Bahnen“ weiter zu der Liebesgeschichte zwischen der Schauspielerin Sarah Bernhardt und dem Vorreiter der Ballonfahrt Fred Burnaby.
Man kennt Barnes Methode zwar, eine historische Person in seine eigene Fiktion zu kleiden, dennoch fragt man sich: Was will der Autor? Dem Leser eine halb wahre / halb erfundene Geschichte erzählen? Was ist deren Sinn? Und vor allem: Wo bleibt der Barnes-typische Humor? 

Erst in „Der Verlust der Tiefe“ beantworten sich diese Fragen von selbst. Hier spricht Barnes autobiographisch von sich selbst und von seinem schlimmsten Verlust, dem Tod seiner Ehefrau Pat Kavanagh, die im Jahr 2008 an einem bösartigen Hirntumor starb. 

Er erzählt von Erfahrungen, die jeder Trauernde durchlebt: Dass man seine Freunde teilt in diejenigen, die ehrlich verstehen und da sind, und diejenigen, die sich in Phrasen ergehen und eigentlich lieber einen Bogen um den Trauernden machen würden. Dass die Umwelt kein Verständnis für die Zeit des Leids hat, dass erwartet wird, schnell schnell der Verzweiflung den Rücken zu kehren, um zum geregelten Alltag zurückzukehren. Dass Zeit nicht die Wunden und den Schmerz heilt, sondern ihn umformt. 

Barnes bleibt diskret, auch wenn er sein Innerstes öffnet. Er schreibt keine Zeile über das Siechtum seiner Frau, ihre letzten Tage und ihren letzten Atemzug. Er bleibt ganz bei sich, bei seinem Kummer und bei seinem Absturz – hier kommt das Thema des Ballonfahrens zum Tragen.
Der Autor offenbart sich und verbirgt sich. Er durchlebt die Trauer und reflektiert sie. Dadurch drängt er dem Leser seine Erkenntnisse nicht auf, und dennoch wird derjenige, der ähnliches erfahren hat, sich verstanden fühlen. 

Endlich räumt jemand mit Nietzsches Satz auf „Was uns nicht umbringt, macht uns stärker“ und beweist, dass Schwachheit zur Trauer dazugehört. Schwachheit, nicht Schwäche.
„Wenn jemand tot ist, dann heißt es zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht mehr gibt“ (S. 124), sagt der erklärte Agnostiker Barnes.