Buch

Bergkameraden - Wibke Backhaus

Bergkameraden

von Wibke Backhaus

1. Alpinismus, Freundschaft und Geschlecht: Einleitung

"Es sind nicht nur Geschichten von rauen Abenteuern in unerkundeten Gegenden, in denen Härte und Durchhaltevermögen zählen. Es sind auch Berichte voller Menschlichkeit und echter Freundschaft…" (Mundologia 2012: 40) Berggeschichten, diese Beobachtung teilt meine Arbeit mit dem oben zi-tierten Werbetext für einenVortragsabend, handeln nicht nur vom einsa-men Kampf eines oder einer Einzelnen gegen eine unwirtliche Natur. Eng mit der Sehnsucht nach Abenteuer, Naturerlebnis und einem Ort außer-halb der ›erkundeten‹ Zivilisation verbunden ist die Idee einer zwischen-menschlichen Nähe, die dort und nur dort erfahren werden kann. Eine raue Natur, so die Botschaft, erfordere und bedinge eine "Menschlich-keit", die im Hochgebirge im Extrem erfahrbar werde. Bergsteigen eignet sich offenbar auf besondere Weise für die Projektion von Gemeinschaftssehnsüchten und Entwürfe idealer Subjekti-vität. Dieser Dimension alpinistischer Selbst- und Fremddeutungen geht die vorliegende Arbeit nach. Sie befragt die alpine Literatur eines Zeitraums von circa 150 Jahren daraufhin, wie in ihr und mit ihrer Hilfe soziale Nahbeziehungen am Berg verhandelt werden und arbeitet die ver-geschlechtlichten Implikationen dieser Verhandlungen heraus. Als Material dienen mir deutschsprachige Bergbücher - oft reich bebilderte Tourenberichte, in denen Bergsteiger/innen und Alpinjournalist/innen von Reisen in die Gebirge der Welt erzählen. Historischer Ausgangspunkt der diskursanalytischen Untersuchung ist die Phase der Gründung der ersten alpinen Vereinigungen und Erstersteigungen der hohen Alpengipfel um 1860. Ausgehend von den Schilderungen dieser Alpenreisenden des ›klassischen Alpinismus‹ (zur Periodisierung vgl. Perfahl 1984: 74ff.) verfolge ich dann die Verhandlungen sozialer Nahbeziehungen am Berg durch das 20. Jahrhundert hindurch. Überraschenderweise ist das Freundschaftsmotiv in wissenschaftlichen Reflexionen des Phänomens Alpinismus selten zum Gegenstand gewor-den. Das mag am unübersichtlichen Stand der Freundschaftsforschung liegen, die sich nur schwer auf gemeinsame Leitfragen, Begriffe und theo-retische Modelle festlegen lässt. Vor allem ist diese Leerstelle aber wohl in der unmittelbaren Plausibilität der alpinistischen Freundschaftserzählung selbst begründet: Erfahren die Akteur/innen in gefährlichen Situationen doch eine unmittelbare Abhängigkeit von ihren Kletterpartner/innen. Todesgefahr und Abgeschiedenheit, Knappheit von Lebensmitteln, Medi-kamenten oder Sauerstoff aber auch die Enge im Zelt und die Notwendigkeit, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, prägen die Gemeinschaftserfahrung am Berg. Zusammenhalt und gegenseitiges Ver-trauen sind für das Gelingen der Unternehmungen unabdingbar; der Tod von Seilgefährt/innen oder Situationen, in denen das eigene Leben von der Hilfe anderer abhängig ist, gehören für diejenigen, die extreme Varianten des Bergsports betreiben, zum Erleben am Berg dazu. Dennoch ist die Idee eines besonderen Gemeinschaftserlebens am Berg keinesfalls ein unmittelbares Ergebnis der Lebensgefahr oder des Aufenthalts in unwirtlichen Gegenden. Sie hat ihre eigene Geschichte, die mit sich wandelnden sportlichen Praxen und Veränderungen in der Zusammensetzung von Expeditionsgruppen verbunden ist; sie legitimiert, erklärt und ermöglicht diese Veränderungen. So wenig selbstverständlich wie die Annahme, dass Lebensgefahr und Entbehrungen zu harmonischer "Menschlichkeit und echter Freundschaft" führen - im Gegenteil: die Ge-schichte der Freundschaft am Berg wird sich auch als Geschichte des Erzählens und Verschweigens von Konflikten entpuppen -, so wenig selbstverständlich ist die Annahme, dass es sich hierbei um einen erzäh-lenswerten Kern des Bergerlebnisses handelt. Auf welche Weise zwischen-menschliche Nähe am Berg thematisiert oder verschwiegen wird, zwischen wem sie denkbar scheint oder sogar eingefordert wird, wie sie benannt wird, welche Formen sie annimmt und auf welche Weise sie sich in den Erzählungen der Bergsteiger/innen jeweils beweist, erzählt viel über alpinistische Selbstverständnisse und Ideale. Im Zentrum meiner Analyse der Verhandlungen sozialer Nahbe-ziehungen am Berg steht dabei die Frage nach der Vergeschlechtlichung der alpinistischen Freundschaftserzählung. Auch im obigen Zitat verweisen "Härte und Durchhaltevermögen" auf ein vergeschlechtlichtes Stereotyp der beim Bergsteigen verlangten Qualifikationen. Alpinistische Männlichkeitsentwürfe der Gegenwart behaupten sich meist gegen solche Annahmen ›harter Männlichkeit‹: "Das ist ein Klischee, ein völlig falsches Bild. Natürlich hängt es mit der Bergstei-gerei zusammen. Der Bergsteiger ist ein ›harter Mann‹. Auch der Typus Natur-mensch ist immer noch machobesetzt. Aber ich bin nicht so." (Messner 1996: 82) Reinhold Messners "immer noch" verweist auf eine Vergangenheit, in der die Verknüpfung von Bergsteigen mit einem Ideal männlicher Härte selbstverständlich gewesen sei. Tatsächlich gilt das Bergsteigen in weiten Teilen des hier untersuchten Zeitraums als besonders männliche Angele-genheit. Insbesondere in der Zwischenkriegszeit charakterisieren Risikobe-reitschaft, Durchhaltevermögen, das Antreten gegen einen als ›Gegner‹ imaginierten Berg oder die ›Eroberung‹ unbekannten Territoriums den Bergsteiger entlang kriegerischer Ideale. Diese symbolische Verknüpfung von Bergsteigen und Männlichkeit ist an einen Ausschluss von Frauen ge-bunden, der vielfältige Formen annehmen kann: Bergsteigerinnen werden Vereinsmitgliedschaften verweigert und Expeditionseinladungen versagt, ihre Fähigkeiten werden infrage gestellt oder lächerlich gemacht, die Pu-blikation ihrer Tourenberichte erfolgt gar nicht oder nur anonym (vgl. z. B. Wirz 2007; Runggaldier 2011). Die Freundschaft am Berg ist in die-sem Kontext nicht einfach die milde Seite des Abenteuers, sondern (zum Beispiel in Form männerbündischer Zusammenschlüsse) Medium des Ausschlusses. Als Grenzen überschreitende, persönliche Bindung kann sie aber, das wird die Untersuchung gleicherweise zeigen, auch Chancen der Teilhabe eröffnen. Die Prinzipien des ›heroischen Alpinismus‹ der Zwischenkriegszeit, Vorstellungen von Kampf und Opfer am Berg, gelten spätestens mit dem Aufkommen der Sportkletterbewegung in den 1970er Jahren als überholt. Damit scheint auch die Entwicklungsgeschichte einer überwundenen oder in Überwindung begriffenen Männerdominanz im Bergsport unmittelbare Plausibilität zu besitzen. Der Alpinhistoriker Peter Grupp (2008) bei-spielsweise versteht die Geschichte des Frauenbergsteigens als "Kapitel der Emanzipation der Frau von der traditionellen Rolle des Heimchens am Herde" (ebd.: 236). Ernst Hanisch schreibt in seiner Geschichte der Männlichkeiten (2005), die dem Alpinismus immerhin ein eigenes Kapitel widmet, dass dieser in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seinen "männlichen Charakter stark eingebüßt" habe und zum "Familiensport" geworden sei (ebd.: 402). Victoria Robinson (2008) erklärt das Anliegen ihrer Studie über männliche Identitäten im Felsklettern als Interesse an der "intersection between hegemonic or traditional masculinity, and the challenges of new masculinities in non-mainstream sports" (ebd.: 22). Sie fragt, "whether they [male rock climbers, W. B.] challenge traditional/do-minant notions of gender roles, identity and power, or merely appear to re-invent them, while in reality reconstructing old ones" (ebd. 25). Während meine Arbeit Robinsons Anliegen, widersprüchliche und am-bivalente Bewegungen in den Blick zu bekommen, durchaus teilt, scheint mir das Gegensatzpaar "hegemonic or traditional", bzw. "traditional/do-minant" versus "more liberatory" (ebd. 23), "new and more egalitarian" (ebd.) ein wenig taugliches Werkzeug, um die Grundannahmen der alpi-nistischen Selbsterzählungen kritisch zu befragen. Findet sich diese Ver-zeitlichung der Geschlechterfrage doch auch im Material selbst: Im Ge-gensatz von alt vs. neu erscheint in den Schriften von Bergsteiger/innen eine harte, entbehrungfähige Bergsteigermännlichkeit wahlweise als erstre-benswertes Ideal jenseits einer verweiblichenden Moderne (dazu auch Günther 1998: 155ff.) oder als Klischee einer längst überwundenen alpi-nistischen Vergangenheit. Männerbündische Zusammenschlüsse gelten als zukunftsweisende Modelle mann-männlicher Verbundenheit oder taugen als Abgrenzungsfolie eines Neuentwurfs alpinistischer Identität, die ›jetzt‹ auch Frauen einschließe. Die Fortschrittslogik der Moderne und der mit ihr verbundene Gegensatz von Tradition und Moderne erweisen sich im gesamten Untersuchungszeitraum als Modelle, über die Vorstellungen von Geschlechterdifferenz und -hierarchie plausibilisierbar werden. Dementsprechend skeptisch ist diese Arbeit allen Ansätzen gegenüber, die das Problem männlicher Dominanz im Bergsport als Ergebnis der Persistenz eines ›veralteten‹, heroischen Männlichkeitsentwurfs deuten. Der Blick in die Quellen eröffnet zunächst eine Perspektive, die nicht einen einzigen, sondern vielfältige ›alte‹ Männlichkeitsentwürfe rekon-struierbar macht, die in der Entwicklungslogik eines ›Alt vs. Neu‹ nur schwer zu greifen sind. Zudem, so eine der zentralen Beobachtungen, scheint für die jeweiligen Protagonisten weniger das Beharren auf ›alten‹ Legitimationsmustern Erfolg versprechend, um eine eigene Vormachtstel-lung zu behaupten, denn eine äußerst flexible Indienstnahme des (oft nur vermeintlich) Neuen. In diesem Sinn behauptet diese Arbeit nicht die problematische Persistenz eindimensionaler Modelle heroischer Männlichkeit, sondern skizziert die ständigen Bedeutungsverschiebungen in Entwürfen alpinistischer Männlichkeit. Wenn also Wissenschaftler/innen und schreibende Alpinist/innen den "typische[n] Bergsteiger von einst - ›stark, wettkampforientiert und leis-tungsfähig‹ ", der "mit seinen monotonen und einseitigen Verhaltensmus-tern keine Frau über sich dulden" konnte (Messner 2010: 13), oder die "herablassende Machohaftigkeit" (Grupp 2008: 235) der Vergangenheit als Problem identifizieren, wird häufig angenommen, dass weniger ›rück-wärtsgewandte‹ Männlichkeitsentwürfe automatisch als Motor einer egalitäreren Geschlechterordnung am Berg fungieren. Meine Arbeit fragt dagegen, wie solche Entgegensetzungen selbst als Strategien fungieren können, die Position der bergsteigenden Heldenfigur zu festigen. Die These lautet, dass die Ausgrenzung von Frauen im Bergsport auf der hier untersuchten Ebene medialer Repräsentationen nicht mit Hilfe veralteter, eigentlich überholter und gegen Veränderung resistenter Männlichkeits-inszenierungen aufrecht erhalten wurde und wird, sondern dass gerade die flexible Anpassungsfähigkeit an Erfordernisse der Neudefinition von Männlichkeit dazu dient, die Machtposition bestimmter Männer und die Exklusivität des Zugangs zu ihren Zusammenschlüssen zu legitimieren und abzusichern. Ich erzähle folglich keine Entwicklungsgeschichte einer überwundenen Männerdominanz im Bergsport, auch wenn die Partizipationsmöglichkei-ten von Frauen sich entscheidend verändert und sicher auch verbessert haben. Vielmehr geht es mir darum, Wandel als solchen zu beschreiben, das heißt zu fragen, wie in und mithilfe von Freundschaftsgeschichten Geschlechterdifferenzen und -hierarchien auf jeweils spezifische Weise behauptet, aufrechterhalten, aber auch infrage gestellt werden. Der Fokus auf Entwürfe sozialer Nahbeziehungen am Berg erweist sich dabei nicht allein deshalb als produktiv, weil "echte Freundschaft" neben "unerkundeter" Natur einen der zentralen Kristallisationspunkte gegenmoderner Sehnsüchte innerhalb des alpinistischen Diskurses bildet. Die Diskussionen um Freundschaft, Kameradschaft oder Seilpart-nerschaft berühren darüber hinaus unmittelbar die Frage, wer (wie) dazugehört. Sozial homogene Räume sind nicht einfach von sich aus existent, sondern müssen exklusiv gehalten und in ihrer Exklusivität legitimiert werden (für weiße Räume vgl. Frankenberg 1996: 58). Freundschaftsgeschichten machen Angebote zur Definition alpinistischer Identität, die auf diese Prozesse hin befragt werden können. Sie entwerfen mögliche Subjektpositionen und strukturieren den Zugang zu diesen. Meine Frage nach sozialen Nahbeziehungen am Berg fokussiert dabei nicht eine präexistente Gruppe (meist männlicher) Freunde, sondern eine Vielfalt von Beziehungen, die mit unterschiedlichen Bedeutungen versehen, geordnet und hierarchisiert werden. Der Blick auf die Freundschaftsgeschichten vom Berg eröffnet so einen analytischen Zugang zu Strategien, über die innerhalb des alpinistischen Diskurses Positionen als hegemonial behauptet werden, aber auch Perspektiven auf die Angriffe, denen diese ausgesetzt sind. Dabei entpuppen sich Verhandlungen von Geschlecht als unmittelbar verwoben mit anderen Achsen der Grenzziehung und Differentsetzung. Mit der Frage, wer auf welche Weise dazugehört, stehen immer auch Differenzen zwischen Männern zur Disposition. Welche Position Träger, Bergführer oder Sherpas in den Gruppen einnehmen, ist nicht weniger umstritten als die Frage nach der möglichen Anwesenheit von Frauen (die dann zumeist als weiß und dem globalen Norden zugehörig imaginiert werden). Vergeschlechtlichte Zuschreibungen werden nicht allein genutzt, um Frauen im Außen zu halten, sondern auch, um bestimmte Männer als ›männlicher‹ zu behaupten als andere (vgl. grundlegend Connell 1995: insbes. 76ff.). Die Geschichte sozialer Nahbeziehungen am Berg ist so auch eine Geschichte von Kämpfen um Zugehörigkeit, Status und Aner-kennung, die diejenigen führen, die an die Grenzen der alpinistischen Ge-meinschaft verwiesen werden - in weiten Teilen des Untersuchungszeit-raums Bergsteigerinnen, Bergführer oder Sherpas. Gleichzeitig stehen Freundschaftsideale immer wieder gemeinsam mit denjenigen größeren Bezugssystemen infrage, aus denen sie ihren Anspruch auf Gültigkeit be-ziehen. In den Geschichten über die Freundschaft am Berg werden problematisch gewordene Konzeptionen alpinistischer Identität durch andere abgelöst oder ergänzt, mögliche Subjektpositionen ausgelotet, Grenzen gezogen und infrage gestellt. Dabei ist es für die vorliegende Arbeit wichtig, auch die Subjekte des ›Widerstands‹ als diesen Grenz-ziehungen nicht vorgängig zu denken. Vielmehr wird sich zeigen, dass sich wandelnde Konzeptionen von Gemeinschaft jeweils unterschiedliche Aus-schlüsse und Angriffspunkte beinhalten. Neue Chancen auf Teilhabe und neue Formen der Ausgrenzung sind oft unmittelbar miteinander verquickt. Auf einer ersten Ebene lässt sich diese Arbeit somit als eine Kulturge-schichte alpinistischer Gemeinschaftsentwürfe lesen. Ich beschreibe, wie die Idee einer besonderen Bergkameradschaft sich formiert, welchen Ver-änderungen sie unterliegt und von welchen alternativen Gemeinschafts-modellen sie abgelöst wird. Die Frage nach dem Wandel alpinistischer Gemeinschaftsentwürfe zielt auf einer zweiten Ebene darauf ab, Ver-handlungen von Geschlechterdifferenz und -hierarchie im alpinistischen Diskurs analytisch nachzuvollziehen. Die sich wandelnden alpinistischen Gemeinschaftsvorstellungen und -ideale sind Gegenstand beständiger Aushandlungsprozesse, in denen, immer verwoben mit vielfältigen Achsen der Differenz, alpinistische Identitäten entlang vergeschlechtlichter Grenzziehungen entworfen werden. Der titelgebende Begriff "Bergkameraden" steht dabei stellvertretend für eine Vielzahl von Bezeichnungen für soziale Nahbeziehungen am Berg, die zwar Kon-junkturen unterliegen, sich in den Quellen aber oft nur unzureichend voneinander abgrenzen lassen. Dementsprechend liefert diese Arbeit keine trennscharfen Definitionen und Modelle unterschiedlicher Entwürfe des Zusammenhalts, sondern lotet gerade diese Unschärfen, Wider-sprüche und Unvereinbarkeiten aus. Die Leitfrage nach den Verhandlungen sozialer Nahbeziehungen im alpinistischen Diskurs verfolge ich entlang chronologischer Cluster, die die Unterkapitel dieser Arbeit bilden. Diese fokussieren jeweils entscheidende Brüche oder Neukonzeptionen der Gemeinschaftsentwürfe am Berg, die sich in der Arbeit mit dem Material herauskristallisiert haben: das Auf-kommen des führerlosen Bergsteigens im ausgehenden 19. Jahrhundert (Kap. 2), die Kameradschaftserzählungen des Dolomitenkriegs (Kap. 3), die Gemeinschaftsentwürfe der Bergliteratur der 1930er Jahre (Kap. 4), die Revisionen dieses Kameradschaftsideals in den 1950er Jahren (Kap. 5), die gegenkulturelle Wende im Bergsport um 1980 (Kap. 6) und die Diskussionen um die als Kommerzialisierung wahrgenommenen Veränderungen im Expeditionsbergsteigen ab Ende der 1990er Jahre (Kap. 7). Diese Zäsuren sind aus der Arbeit mit dem Material entstanden. Dass die hier behaupteten ›Bruchstellen‹ innerhalb des alpinistischen Dis-kurses auf umfassendere kultur-, bzw. gesellschaftsgeschichtliche Einschnitte verweisen und sich der Wandel alpinistischer Gemeinschafts-entwürfe in gängige alpinhistorische Chronologien einordnen lässt, ist dennoch nicht zufällig. Schließlich beziehen die Freundschaftsgeschichten vom Berg ihre Legitimität und Plausibilität aus größeren kulturellen Deu-tungszusammenhängen. Die einzelnen Kapitel sind auch einzeln lesbar und ergänzen die vor-handene alpingeschichtliche Forschung um einen Blick auf Gemein-schaftskonzeptionen in der Bergliteratur. In der Gesamtschau liefern sie einen Überblick über die Mehrschichtigkeit und Vielfalt von Entwürfen sozialer Nahbeziehungen im alpinistischen Diskurs und lassen erkennen, wie mithilfe sich wandelnder Konzeptionen von Freundschaft am Berg Vormachtstellungen behauptet und infrage gestellt, Ausschlüsse legitimiert und Forderungen nach Teilhabe formuliert werden. Um die theoretischen und methodologischen Grundlagen dieser Argu-mentation zu klären, stelle ich der Analyse im Folgenden einige Erläute-rungen voran. Die folgenden Abschnitte positionieren meine Arbeit in den Debatten um das Verhältnis von Alpinismus und Moderne sowie um Freundschaft und Geschlecht. Sie skizzieren den Forschungsstand, klären wesentliche Begriffe und stellen abschließend eine Version hegemonie-theoretisch informierter Diskursanalyse vor, die es ermöglicht, die oben skizzierten Prozesse des beständigen Ringens um Bedeutungen analytisch nachzuvollziehen.

Alpinismus und Moderne Die Idee der "echten Freundschaft" am Berg lässt sich, wie die Behaup-tung der "unerkundeten Gegenden" als Bestandteil des alpinistischen Dis-kurses charakterisieren, der das Bergsteigen als Gegensatz zu und Außen der Moderne, in Teilen auch als Neuentwurf einer besseren Moderne, behauptet. Die Zeit der Erschließung der letzten Alpengipfel in der Mitte des 19. Jahrhunderts fällt nicht zufällig mit denjenigen gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, die gemeinhin als Modernisierung beschrieben werden. Diese Prozesse - technische Entwicklungen, Industrialisierung, Nationalstaatenbildung, koloniale Expansion, Ausbau der touristischen Infrastruktur, Vereinswesen, Aufstieg des Bürgertums - ermöglichen und begleiten den Aufstieg des Alpinismus. Dass dabei diejenigen modernen Entwicklungen, vor denen die Berge einen Ausweg bieten sollen, die Bergsteiger/innen erst nach oben bringen - das gilt für die Eisenbahn genauso wie für die europäischen Kolonialverwaltungen -, ist verschie-dentlich bemerkt worden (vgl. z. B. Dummitt 2004). Die Frage, auf welche Weise dieses Verhältnis von Alpinismus und Moderne gefasst werden soll, wird in der Forschung jedoch recht unterschiedlich beantwortet. Der folgende Abschnitt skizziert das Moderneverständnis dieser Arbeit und stellt den Forschungsstand zur Alpingeschichte vor.

Alpinismus als modernes Phänomen Bergsteigen ist aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven zum Ge-genstand wissenschaftlicher Reflexion geworden. Dabei lassen sich die Arbeiten grob in zwei Richtungen unterteilen: Ein eher sportsoziologisch, sportphilosophisch und sportpsychologisch ausgerichteter Strang fragt nach der individuellen oder gesellschaftlichen Funktion des Abenteuer- und Risikosports. Ein inzwischen recht breit ausdifferenziertes Feld histo-risch argumentierender Untersuchungen beschäftigt sich dagegen mit dem Alpinismus als kulturellem Phänomen. Beide Richtungen nehmen oft we-nig Notiz voneinander. Das mag in generellen Schwierigkeiten interdiszi-plinärer Verständigung begründet sein. Die fehlende wechselseitige Bezug-nahme lässt sich aber auch mit dem jeweiligen Zugriff auf den Gegenstand und, eng damit verbunden, einem unterschiedlichen Zugang zum Begriff Moderne erklären. Diesen erläutere ich im Folgenden beispielhaft an der Gegenüberstellung zweier für die jeweilige Richtung wegweisender Ansätze. Dabei teilen der Kulturwissenschaftler Bernard Tschofen und der Sportsoziologe Karl-Heinrich Bette zunächst ein grundsätzliches Einver-ständnis darüber, vom Alpinismus als modernem Phänomen zu sprechen. Der Alpinismus sei "eine genuin moderne Kulturbewegung", schreibt Tschofen (1999: 32). Bette (2004: 10f.) sieht den Abenteuersport als "Reaktion auf die personalen Wirkungen und Ambivalenzen der sich durchsetzenden Moderne". Im Zentrum steht jeweils das oben skizzierte Motiv des Bergsteigens als Flucht aus der Moderne, das beide Autoren selbst für ein modernes Phänomen halten. Damit positioniert sich Bette gegen Ansätze, die das Bergsteigen als Kompensation von Defiziten der Moderne verstehen, ohne den Bergsport und seine Ausstiegsinszenierungen selbst explizit als modernes Phänomen zu charakterisieren (vgl. beispielhaft Aufmuth 1994 [1988], 1986; Lutz 2001; Caysa/Schmid 2002; Opaschowski 2000). In der Begegnung mit dem Berg, argumentieren diese Autor/innen, könnten Bergsteiger/innen durch das Leben in der Moderne verursachte Identitätskrisen bewältigen. Solchen Ansätzen wirft Bette (2004: 9) eine Ontologisierung des Risikohandelns sowie eine fehlende analytische Distanz zu den Selbstdeutungen der Akteur/innen vor. Letztlich zielt auch Bettes Arbeit aber darauf ab, die Kompensationsthese soziologisch zu fundieren, nicht darauf, diese zu verabschieden. Er argumentiert, dass es die fortgeschrittene Moderne selbst sei, die das Entstehen von Risikopraktiken bedinge (vgl. ebd.: 122ff.) und grenzt sich von auf das Individuum zielenden Erklärungsversuchen ab. In seiner Deutung hängen die Extremsportler/innen wie auch die Konsument/innen der Abenteuererzählungen einer kollektiven Fiktion des Ausbruchs nach. Gerade deshalb erfüllten die erfolgreich inszenierten Abenteuer der Wenigen aber eine breitere gesellschaftliche Funktion: Nachdem andere Felder des Abenteuers an Bedeutung verloren hätten, sei der Abenteuer-sport "eine Antwort auf die Abenteuer- und Risikoverdrängung in der Restgesellschaft" (ebd.: 118). Der Bergsport entpuppt sich so zwar als ei-ne höchst moderne Antwort auf die Moderne, dennoch theoretisiert auch Bette das Abenteuer unter dem Vorzeichen der Kompensation. Bernhard Tschofen dagegen geht es nicht um die Funktion des Berg-sports in der Moderne, sondern um die kulturellen Bedeutungen von Ber-gen und Bergsteigen, darum, "wie sich die Moderne mit dem ›Alpinen‹ ein bis heute wirkmächtiges - und vielfältig erneuerbares - Konnotations-reservoir geschaffen hat" (Tschofen 1999: 10). Dabei verweist er auf die Historizität des Fluchtmotivs: "[D]er Alpinismus argumentiert aus der Moderne heraus und in die Moderne hin-ein. Er setzt eine Lebensweise voraus, die bereits zeitgleich mit Attributen wie ›bürgerlich‹› ›städtisch‹, ›industriell‹ versehen wird. Und er setzt den Glauben an einen wettzumachenden Verlust voraus; vom Bergsteigen heißt es, ›dass es den Mann männlicher, den Mensch menschlicher, weil naturgemässer [sic] macht.‹ Den Alpinismus schließlich in eine Reihe von Fluchtbewegungen zu stellen ist keine Empfehlung der Kompensationstheorie gegenwärtiger Prägung, sondern - wenn nicht zeitgleiches Selbstbild› dann doch - evidente und begleitende Deutung alpinistischer Chronik und Reflexion." (Ebd.: 15) Im Motiv der Flucht vor der Moderne - so lässt sich Tschofens Interven-tion lesen - entwerfen Bergsteiger/innen die Moderne selbst, und in die-sem Komplex die eigene alpinistische Identität. Räume des Abenteuers sind dann wie schon bei Bette nicht einfach ein Außerhalb der Moderne, sondern deren konstitutiver Bestandteil. Tschofen zieht aus diesem Per-spektivwechsel allerdings andere Konsequenzen: Er nimmt nicht die Funktion des Bergsteigens in der Moderne, sondern Konstruktionspro-zesse der Moderne selbst in den Blick. Ihn interessiert, wie über die Alpenbegeisterung als kulturelle Praxis historisch verhandelt wird, was un-ter Moderne als Gegenwartsbeschreibung jeweils zu verstehen ist. "Mountain climbing", schreibt auch der Alpinhistoriker Peter Hansen (2013: 3), "did not emerge as the expression of a preexisting condition known as ›modernity‹, but rather was one of the practices that constructed and redefined multiple modernities […]." Für die Frage nach der Vergeschlechtlichung alpinistischer Freundschafts-konzeptionen erscheint mir dieser Ansatz vielversprechend, fragt er doch nach den Bedeutungen, die historische Akteur/innen Geschlecht, Moderne und Alpinismus jeweils geben. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Moderne deshalb weniger als der Analyse vorgängige Größe denn als Gegenstand selbstreflexiver Aushandlungsprozesse in den Blick zu neh-men sein.

Krisen der Moderne als Krisen der Männlichkeit Das oben skizzierte Verständnis von Moderne teilen Tschofen oder Han-sen mit anderen kulturhistorischen Arbeiten zum Alpinismus, allen voran mit Dagmar Günthers (1998) diskursanalytischer Studie zum Vereinsalpi-nismus der Jahrhundertwende 1900. Anders als Tschofen spürt Günther der Vergeschlechtlichung des Fluchtmotivs nach. Ihre Arbeit lässt sich so als Beitrag zur feministischen Debatte um die Krisen der Moderne lesen: Die Entwürfe des Alpinen als Ausweg aus der (oder auch: Neuentwurf von) Moderne dienen, so Günther, der Wiederherstellung einer als bedroht imaginierten Geschlechterordnung, die dem Mann nicht nur symbolisch das ›Oben‹ sichert. Die alpinistische Kulturkritik schließt so an Debatten der Jahrhundertwende 1900 an, in denen ›Moderne‹ als Selbst-beschreibung und Zeitdiagnose von vornherein an Verhandlungen des Geschlechtergegensatzes gebunden erscheint. Die Bedrohungsszenarien einer Kulturkrise dechiffriert etwa Hannelore Bublitz (1998: 41) als "Fremdwerden des männlichen Subjekts in der selbst hervorgebrachten, eigenen Kultur", eine "Krise der männlichen Identität" (ebd.: 42), die sich in einer symbolischen Feminisierung der Moderne äußere. Steht doch, so Bublitz, um 1900 die Gleichsetzung des Männlichen mit dem Allgemein-Menschlichen zur Disposition. Die Widersprüche zwischen der Position des Mannes als Verkörperung des Allgemeinen und der Tatsache, dass zum Beispiel mit dem Aufkommen der Psychoanalyse auch der Mann als Geschlechtswesen erscheint, brechen um 1900 auf und führen zu einer Legitimationskrise männlicher Vorherrschaft (vgl. auch Mehlmann 2008). Solche Inszenierungen von Krisen der Moderne als Krisen der Männlichkeit (Schnurbein 2001) haben um 1900 Hochkonjunktur (vgl. auch Brunotte/Herrn 2008; Helduser 2005; Klausmann/Schröder 2000), verweisen aber auf eine grundsätzliche Vergeschlechtlichung der Moderne-Diskussion. Verhandlungen der Moderne entpuppen sich als Verhandlungen von Geschlechterdifferenz und -hierarchie. Inszenierungen des Leidens und des Scheiterns als vergeschlechtlichte Krisenszenarien sind aus dieser Perspektive nicht notwendigerweise Indi-zien für einen Machtverlust von Männern und bilden nicht nur um die Jahrhundertwende 1900 einen konstitutiven Bestandteil moderner Männ-lichkeitsentwürfe. So versteht beispielsweise Ines Kappert (2002) in ihrer Analyse populärkultureller Erzeugnisse der 1990er Jahre die Krisen der männlichen Protagonisten als Mechanismen der Selbstbeschäftigung, die den weißen, heterosexuellen Mann zurück ins Zentrum der Aufmerksam-keit rücken. Ähnlich argumentiert die Literaturwissenschaftlerin Elahe Haschemi Yekani (2011), die unterstreicht, dass literarische Krisen selbst als Privileg fungieren können, die den weißen Helden vorbehalten bleiben: "… the ›Others‹ of this idealised fiction of the autonomous subject cannot claim the position of fundamental crisis as they have never inhabited the place of universal humanity. Of course, models of narrating female or marginalised men's conflicts exist and prosper. However it is the normative and unmarked position of White masculinity that lends narratives of hegemonic masculinity in crisis such a cultural momentum of standing for the whole of mankind. That is why, it can be argued, these texts are part of a discourse that re-privileges hegemonic masculi-nity. Proclaiming a crisis often entails a restaurative impulse." (Ebd.: 16) Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive bezeichnet Edgar Forster (2006) solche Mechanismen als männliche Resouveränisierungen (vgl. auch Casa-le/Forster 2006), ein Muster, das sich auch, darauf zielt Forster, in der akademischen Männlichkeitsforschung oder der Debatte um Jungen als Bildungsverlierer wiederfinden lässt (vgl. z. B. Fegter 2012). Für einen Blick auf die sich wandelnden Legitimationsstrategien der Monopolisierung des Bergsteigens als Männersport werden sich solche Ansätze als hilfreich erweisen, sind doch Kriseninszenierungen fast im ge-samten Untersuchungszeitraum in meinem Material prominent. Auch die wissenschaftlichen Bestimmungen der Defizite der Moderne, die das Bergsteigen kompensieren soll, entpuppen sich häufig als zumin-dest implizit vergeschlechtlicht. "Abenteuersportler wollen Beute und nicht Rente", meint Bette (2004: 23). Für Aufmuth (1994 [1984]) bietet das Bergsteigen unter anderem "Kampf" (ebd.: 23), "Bergkameradschaft" (ebd.: 32), "Abenteuer" (ebd.: 50) oder "Herrschergefühle" (ebd.: 47). Der durch das Leben in der modernen Gegenwart beschädigte Mensch bleibt als Mann gedacht, bzw. durch einen Mangel an männlich konnotierten Eigenschaften ausgezeichnet. Für eine Gender-Perspektive bietet die Kompensationsthese somit schwer umgängliche analytische Fallen, da, wenn auch meist indirekt über die Figur autonomer Subjektivität, Annah-men über Geschlecht der Analyse vorgelagert bleiben. Wenn davon auszugehen ist, dass die selbstreflexiven Bestimmungen von Modernität selbst in die Konstruktion des Geschlechtergegensatzes verstrickt sind, kann Moderne nicht einfach als Rahmen der Analyse vo-rausgesetzt werden (zur feministischen Kritik an Modernisierungstheorien weiterführend Degele/Dries 2005: 206-231). Tatsächlich bietet aber auch eine Perspektive, die mit diskursanalytischer Distanz von einer inhaltlichen Bestimmung von Moderne absieht, keine abschließende Lö-sung für die kontroversen Auseinandersetzungen um die Brauchbarkeit des Begriffs. Gelten doch auch in den meisten kulturhistorisch argumen-tierenden Arbeiten die selbstreflexiven Verhandlungen der Moderne als Ergebnis von, Reaktion auf und Motor von Modernisierungsprozessen. Gerade diese haben sich jedoch als analytisch nur schwer greifbar erwiesen. Welche Maßstäbe anzulegen sind, um eine Gesellschaft als modern charakterisieren zu können, bleibt umstritten. Modernisierungs-theorien sehen sich mit Eurozentrismus- und Androzentrismusvorwürfen sowie einer Kritik am normativen Impetus der Modernisierungsdiskussion konfrontiert (vgl. zusammenfassend Schwinn 2006; Degele/Dries 2005). Versuche, die widersprüchliche Grundstruktur von Modernisierungspro-zessen ins Zentrum zu stellen, die Fortschrittsbehauptung und die Gegenüberstellung von Tradition und Moderne selbst zum Gegenstand der Analyse zu machen sowie nicht eine einzige, sondern vielfältige, miteinander verwobene Verhandlungen von Moderne in den Fokus zu rücken, reagieren auch auf diese Interventionen. Auch sie - und damit diese Arbeit - kommen jedoch nicht umhin, die Moderne nicht allein als Figur rhetorischer Selbstreflexion, sondern auch als Bündel historischer Veränderungen von Gesellschaft zu fassen, die diese Reflexionsprozesse bedingen und von diesen bedingt werden. Die Bestimmung des Alpinismus als moderne Kulturbewegung verweist somit auf beides: die gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts, die die Entstehung des Bergsports ermöglichen und begleiten, wie den alpinisti-schen Diskurs als Ort selbstreflexiver Bestimmungen von Modernität (vgl. auch Günther 1998: 17ff.).

Der Alpinismus als moderne Kulturbewegung Der Terminus Alpinismus, eine Selbstbezeichnung der auch als ›Alpi-nist/innen‹ auftretenden Bergsteiger/innen, wird vor allem von kultur-wissenschaftlichen Arbeiten zum Phänomen genutzt. Er verschiebt den Blick weg vom Bergsteigen als Sportart hin zu einem Geflecht aus Insti-tutionen, Deutungsmustern und Praktiken, die sich mit den Bergen und dem Bergsteigen verbinden. Bergbegeisterung und Bergsteigen werden so als kulturelle Phänomene gefasst, die über das Risikohandeln am Berg hinausreichen (vgl. z. B. Günther 1998: 11ff.). Im Verlauf der Verlagerung bergsportlicher Betätigung von den Alpen zu den außereuropäischen Gebirgen, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt, bleiben die institutionellen Rahmenbedingungen, die Gruppe der Akteur/innen wie auch ihre Selbstdeutungen weitgehend intakt. Eine Unterscheidung von Alpinismus und "Himalayaismus [sic]", wie sie Dominik Siegrist (1996: 70ff.) vorschlägt, halte ich deshalb für wenig gewinnbringend. Der Alpinismus ist geografisch nicht an die Alpen gebunden, hat aber seinen Ausgangspunkt in der Erschließung der Alpen im 19. Jahrhundert. Forschung zur Geschichte des Alpinismus wird bis heute vor allem im Umfeld der Alpenvereine vorangetrieben. Neben überblicksartigen Dar-stellungen (vgl. Grupp 2008; Perfahl 1984), kleineren, meist regionalge-schichtlichen Initiativen sowie den Ausstellungen und Katalogen der alpi-nen Museen ist aber seit Ende der 1990er Jahre eine zunehmende Zahl alpinhistorischer Monografien und Aufsätze in Fachzeitschriften zu ver-zeichnen. Sichtbar wird die Entstehungsgeschichte einer facettenreichen alpinen Bewegung im 19. Jahrhundert, die eng mit dem Aufstieg des Bür-gertums und des Vereinswesens (vgl. Günther 1998; Gidl 2007), der Nationalstaatenbildung (vgl. Mathieu 2004) einer sich verändernden Natur- und Landschaftswahrnehmung (vgl. Groh/Groh 1991; Mathieu/Boscani Leoni 2005; Mathieu 2006; Lughofer 2014), der wissenschaftlichen Erschließung des Hochgebirges und der Geschichte der Kartografie (vgl. Nagel/Welsch 1999), der Geschichte des Tourismus sowie kolonialen Expansionsbestrebungen (vgl. Bayers 2003) verknüpft ist. Der Alpinismus lässt sich aus dieser Sicht als ein bürgerliches Projekt charakterisieren, in dem städtische Tourist/innen und Wissenschaftler sich zunächst den innereuropäischen Peripherien, später den außereuro-päischen Hochgebirgen zuwenden. Im Rahmen einer Kulturbegegnung zwischen Stadtbewohner/innen und lokaler Bevölkerung, die den Tourist/innen vor allem in Gestalt von Bergführer/innen, Senner/innen und Tourismusunternehmer/innen entgegentritt, profilieren sich die städtischen Bergsteiger/innen dabei immer auch gegen das ländliche Andere (vgl. Günther 2005; Scharfe 2007; Wirz 2005). Auffällig für die Forschung zum deutschsprachigen Alpinismus ist die Konzentration der historischen Studien auf die Jahrhundertwende 1900 und den Nationalsozialismus. Berglandschaften werden im Verlauf des 19. Jahrhunderts Projektionsflächen nationaler Identifikationen. Diese im Ersten Weltkrieg weiter verstärkte symbolische Verknüpfung einer ›heroi-schen‹ Landschaft mit Fantasien nationaler Größe (vgl. Tschofen 1992; auch Rapp 1997) bietet sich auch für nationalsozialistische Propaganda-projekte an, seien es Hitlers Domizil auf dem Obersalzberg (dazu Rapp 1997: 50-56) oder die dramatischen Geschichten von Kampf und Opfer an der Eiger-Nordwand oder dem Nanga Parbat (vgl. Höbusch 2002, 2009). Diese Nähe von alpiner Bewegung und NS-Ideologie nehmen ver-schiedene Autor/innen in den Blick (vgl. DAV, ÖAV und Alpenverein Südtirol 2011; Amstädter 1996; Kluge 2007; Mierau 2006; Mueller 1979; Zebhauser 1998). Inzwischen ist auch die Aufarbeitung der Geschichte jüdischer Bergsteiger/innen (Loewy/Milchram 2009; Schindler 2005b), der Naturfreunde-Bewegung (Günther 2003) und anderer "Rote[r] Berg-steiger" (Schindler 2008; auch Archiv der Münchner Arbeiterbewegung 2002) begonnen worden. Trotz der offensichtlichen Einbindung des Expeditionsbergsteigens in koloniale Imaginationen und Praktiken, ist dieser Aspekt bisher fast aus-schließlich in der englischsprachigen Literatur untersucht worden (vgl. Bayers 2003; Hansen 2000). Wegweisend für einen Blick auf die Investi-tionen und Interventionen nicht-weißer Subjekte am Berg ist Sherry Ort-ners (1999) Studie zur Position von Sherpas im Everest-Tourismus. Susan Frohlick (2003, 2004, 2005) ergänzt diese Perspektive um Überlegungen zur Verhandlung des Verhältnisses globaler und lokaler Bezüge im Himalaja-Tourismus der Gegenwart. Für die Schweiz liefert Patricia Purtschert (2013) erste Überlegungen dazu, wie sich eine postkoloniale Perspektive für das Verständnis alpinistischer Praktiken produktiv machen lässt. Einen Überblick über die Nachkriegsgeschichte des Alpinismus ver-sucht ein Ausstellungskatalog des DAV (Kaiser/Mailänder 2007). Auch Nicholas Mailänders (2006) eher journalistisch gehaltenes Buch über München als Zentrum der alpinistischen Bewegung weist über die Zäsur 1945 hinaus. Fast unerforscht bleibt aber bis heute insbesondere die DDR-Geschichte des Bergsports (als Ausnahme: Schindler 2005a, 2007; zur Sowjetunion Maurer 2010), die vor allem eine Geschichte der in der Vorkriegszeit sehr aktiven sächsischen Bergsteiger/innen sein dürfte (dazu Schemmann 1988). Dies ist vor allem deshalb bedauerlich, weil die Positionierung der Bergsportler/innen zwischen DDR-Sportwesen (dazu Schindler 2007) und halblegalen Expeditionen in die Berge der Sowjetunion (dokumentiert in Kuhbandner/Oelker 2011) ein facetten-reiches Bild liefern könnte, das über die Dokumentation eines Rand-phänomens der Sportgeschichte der DDR hinausreicht. Es ist vor allem diese Forschungslücke, die die Konzentration meiner eigenen Arbeit auf die Alpingeschichte des dem ›Westen‹ zugerechneten deutschsprachigen Raums bedingt. Die Aufarbeitung der sporthistorischen Hintergründe der Bergliteratur der DDR wäre Gegenstand einer eigenen Arbeit. Für das Projekt einer historischen Skizze alpinistischer Gemeinschaftskonzeptio-nen im deutschsprachigen Raum fehlt damit aber ein wichtiger Baustein. Die oben skizzierte Vielzahl historischer und geografischer Kontexte des Phänomens Alpinismus rechtfertigt die Frage, ob es überhaupt Sinn macht, diese unter dem Oberbegriff Moderne zu vereinheitlichen. Ange-sichts fundamentaler politischer, wirtschaftlicher und kultureller Verände-rungen im Untersuchungszeitraum erscheint Moderne als ein stark verein-fachender Epochenbegriff, dessen Gültigkeit als Gegenwartsbeschreibung seit längerem infrage steht. Diese Debatten, etwa in Form der Thesen zur Risikogesellschaft (Beck 1986, 1993), spiegeln sich dabei, wie schon die Dis-kussionen um die Krisen der Moderne der Jahrhundertwende, auch im alpinistischen Diskurs. Auch wenn sich Bergsteiger/innen der Gegenwart, anders als die des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, nicht länger als Teil einer ›Kulturbewegung‹ verstehen, offenbaren die oben beschriebenen Studien nicht allein historische Differenzen, sondern auch grundlegende Kontinuitäten. So kann zum Beispiel Andrea Hungerbühler (2013) nachweisen, dass die für das alpinistische Selbst-verständnis des 19. Jahrhunderts grundlegende Kontrastierung eines unverdorbenen ›Oben‹ mit einem potentiell problematischen, städtischen ›Unten‹ genau wie die Idee der Alpen als Garant von Freiheit zentrale Motive in den Identitätskonstruktionen gegenwärtiger Bergsteiger/innen bleiben. Setzt man, aller Skepsis einer inhaltlichen Bestimmung von Moderne zum Trotz, wie Tschofen (1999) oder Günther (1998) die selbstreflexive Behauptung eines Gegensatzes von Tradition und Moderne als zentrales Charakteristikum moderner alpinistischer Selbstverständigungen, offenbart sich deren ungebrochene Aktualität.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
333 Seiten
ISBN:
9783593434735
Erschienen:
November 2016
Verlag:
Campus Verlag GmbH
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