Rezension

Wissenschaftliche Methoden verstehen lernen

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit -

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit
von Mai Thi Nguyen-Kim

Bewertet mit 4 Sternen

Mit „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“ veröffentlicht die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin (Grimme-Preisträgerin 2021 für Besondere Journalistische Leistung) Dr. Mai Thi Nguyen-Kim ihr zweites Buch bei Droemer Knaur. Sie geht darin acht intensiv diskutierten Streitfragen auf den Grund. Was kann wirklich anhand von wissenschaftlichen Fakten belegt werden? Wie verlässlich sind diese und wo gibt es (noch) gar keinen Beweis?

Die Autorin kannte ich bereits vorab durch ihr YouTube Format „maiLab“. In ihren Videos bereitet sie wissenschaftliche Themen und Theorien, seien es hochaktuelle rund um Covid-19, oder weniger prominente wie Vitamin D, für Nicht-Wissenschaftler und Statistik-Laien auf. Beides trifft auf mich zu und ich fühle mich auf meinem Wissensstand immer sehr gut abgeholt. Dr. Nguyen-Kim vermittelt anschauliche Grundlagen, soweit sie für das Verständnis erforderlich sind und wendet diese dann auf das vorgestellte Thema anschaulich an. Sie erklärt nicht nur gut, sondern ist dabei noch unterhaltsam, was mich jedes Mal erneut fesselt.

In ihrem Buch geht sie nun ganz ähnlich vor. Acht verschiedene Themen behandelt sie inhaltlich auf diese Weise: Legalisierung von Drogen, Videospiele und Gewalt, Gender Pay Gap, Big Pharma vs. Alternative Medizin, Impfungen, Erblichkeit von Intelligenz, das Denken von Frauen und Männern und die ethische Frage bei Tierversuchen. Manche Themen haben mein Interesse mehr geweckt als andere, aber viele Kapitel eignen sich hervorragend um den Leser*innen ein paar Grundlagen zu vermitteln: Was ist der Korrelationskoeffizient, wo ist der Unterschied zu Kausalität und was ist statistische Signifikanz? Im Studium habe ich vor Statistik Reißaus genommen, in diesem Buch konnte ich gar nicht mehr verstehen, wieso. Die Erklärungen waren sehr gut nachzuvollziehen, die Beispiele aus der Praxis interessant und eingängig. Natürlich muss man jederzeit konzentriert lesen, was zuweilen anstrengend sein kann, aber es lohnt sich.

Dieses Buch macht aus niemandem einen Wissenschaftler oder Experten in dem einen oder anderen Thema – dazu sind die Fragestellungen viel zu komplex und häufig muss man einräumen, dass die Datenlage nicht ausreichend ist um eine einzig zulässige Schlussfolgerung zu ziehen. Darum geht es auch nicht. Genauso wenig versucht die Autorin, ihre Meinung als objektive Fakten darzustellen. Es ist jederzeit klar gekennzeichnet, wenn sie ihre eigene Meinung darlegt.

Es geht darum, jede/n einzelne/n Leser*in darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig es ist, sich kritisch mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien auseinander zu setzen. Das Ergebnis einer solchen ist schnell zitiert. Diese verkürzten Aussagen enthalten aber nicht immer alle Informationen, die es braucht, um das Ergebnis im Kontext des gesamten Themas sehen zu können. Dr. Nguyen-Kim hilft hier jeder interessierten Person, diese Informationen zu finden. Sie befähigt uns, aufgrund von Fakten – nicht aufgrund von Halbwahrheiten – unsere eigenen Schlüsse zu ziehen.

Zusammenfassend komme ich zu 4 von 5 Sternen und zu einer klaren Leseempfehlung. Dr. Mai Thi Nguyen-Kim vermittelt die Grundlagen der Forschung und Statistik leicht und anschaulich und hilft, wissenschaftliche Methoden kritisch zu hinterfragen. Die Themen hätten noch etwas besser aufeinander abgestimmt sein können. Einen roten Faden gibt es zwar methodisch, aber nicht unbedingt inhaltlich. Auch hätte ich mich gefreut, wenn zumindest ein Teil der Themen in diesem Buch noch nicht auf ihrem YouTube Kanal behandelt worden wären.

Ihr erstes Buch werde ich aber auf jeden Fall noch nachholen und mich mit kommenden Veröffentlichungen – egal, ob Video oder Buch – gerne beschäftigen.