Rezension

Wie weit darf man für die, die man liebt, gehen? Psychologisches Familiendrama, das sich zum Krimi entwickelt

Der Fremde -

Der Fremde
von Caitlin Wahrer

Bewertet mit 4 Sternen

„Wenn sie es nur bis in den Frühling schafften, dann wäre vielleicht alles anders. Die Sonne und die Krokusse würden Tonys Herz aufblühen lassen. Er würde merken, dass die Welt nicht von einem auf den anderen Tag schwarz geworden war. Aber bis zum Frühling waren es noch Monate“

Student Nick wartet in der Bar auf seine Verabredung. Doch diese erscheint nicht, stattdessen spricht ihn ein Fremder an. Am nächsten Morgen wacht Nick schwerverletzt in einem Motel auf, er wurde vergewaltigt. Für Nick wird danach das Leben nie mehr so sein wie vorher, er leidet massiv unter dem traumatischen Erlebnis. Nicks Bruder Tony, der sich um Nick stets fast wie ein Vater gekümmert hat, macht das Verbrechen ebenfalls schwer zu schaffen. Er scheint regelrecht besessen davon, Rache am Täter üben zu wollen. Nicks Frau Julia sorgt sich sehr um ihren Mann und ihren Schwager.  
Vier Jahre später sucht Detective Rice, der den Fall damals bearbeitete, Tonys Frau Julia auf und bittet um eine Unterredung. Was ist geschehen? 

 

Caitlin Wahrer erzählt in kurzen Kapiteln in der Vergangenheit. Sie schreibt klar und anschaulich. Immer wieder wechselt die Erzählzeit und die Perspektive. Mal wird geschildert, was sich 2015 ereignet, mal geht es darum, was vier Jahre später passiert. Die Autorin nimmt abwechselnd Julias, Detective John Rices, Nicks oder Tonys Sichtweise ein. Stück für Stück werden die einzelnen Aspekte und Komponenten der Handlung enthüllt und zusammengesetzt, bis am Ende klar ist, was wirklich geschah.

 

Jede der Hauptfiguren wird sehr nachvollziehbar und plausibel dargestellt. Mit Nick leidet man beim Lesen, mit John Rice möchte man die Wahrheit herausfinden und den Fall aufklären, für Julia hofft man, dass ihre Ehe und ihre Familie das Ganze unbeschadet übersteht und mit Tony ist man wütend und verzweifelt über die Machtlosigkeit, die eintritt, wenn der Mensch, den man liebt, verletzt und gebrochen wird. Und auch der Täter Ray und sein Verhalten verursacht bei den Lesern starke Gefühle. Hier sind viele gewaltige Emotionen im Spiel, die die Beteiligten zu allem fähig werden lassen. Eine überaus spannende, explosive Figurenkonstellation.

 

Was geschah damals wirklich? Werden die betroffenen Personen die Geschehnisse verarbeiten und hinter sich lassen können? Das Buch ist durch die vielen Zeitsprünge und Perspektivwechsel recht ungewöhnlich und raffiniert aufgebaut, der Plot klug inszeniert. Die jeweilige Situation wird dabei sehr deutlich, absolut nachfühlbar und intensiv aus unterschiedlicher Sicht beschrieben. Anfangs geht der Roman eher in Richtung Familiendrama, das aufzeigt, wie ein schreckliches Ereignis die Welt einer ganzen Familie aus den Fugen heben kann. Später dann steigert sich das Erzähltempo rasant, der Roman entwickelt sich zu einem wirklich gut gemachten Krimi mit unerwarteten, wenn auch nicht ganz überraschendem Ende. Für mich ein sehr beachtliches Debüt über Recht und Gerechtigkeit und die Frage, wie weit man gehen darf, um seine Lieben zu schützen.