Rezension

Was ist 'normal'?

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Bewertet mit 4 Sternen

'Die Tanzenden' von Victoria Mas ist ein Roman, der dem Leser die Augen öffnen soll. Hinsichtlich der Vergangenheit und unserer Geschichte - denn er erzählt von den ehemaligen Praktiken und Patientinnen der bekanntesten psychiatrischen Anstalt Europas des 19. Jahrhunderts, die Salpêtrière in Paris - und er sensibilisiert für das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern und die schwankende Definition dessen, was man als 'normal' bezeichnet. 

Er begleitet insbesondere drei Frauen, die mit der Salpêtrière verbunden sind: Louise - eine Patientin, die unter sogenannter gynäkologischer Hysterie leiden soll und regelmäßig in Vorführungen des lehrenden Professors Jean-Martin Charcot unter Hypnose gesetzt wird, Geneviève - die langjährige Hauptaufseherin der Anstalt, eine rational denkende Person, die ihre medizinischen Ambitionen und die Trauer über den Tod ihrer Schwester unterdrückt und Eugénie, ein Mädchen aus gutem Hause, das intelligent und selbstbewusst nicht in die vorherrschende patriarchalische Gesellschaft passt und empfänglich ist für Nachrichten aus dem Jenseits. Als ihr Vater davon Wind bekommt, lässt er sie umgehend in die Salpêtrière einweisen. 

Entgegen dem Klappentext handelt es sich bei Louise und Eugénie also nicht um 'typische' heranwachsende Frauen, die davon träumen, in einem Café ein Buch zu lesen. Es geht um eine klinisch Kranke, die durch die - teilweise unsäglichen - Praktiken in der Nervenheilanstalt mehr und mehr geschädigt wird und eine Frau mit spiritueller Begabung. Die Autorin macht es einem hier - insbesondere im zweiten Fall Eugénie - nicht leicht, sich mit den Frauen zu identifizieren und somit in die 'Hymne auf die Courage ALLER Frauen' einzustimmen. Vielleicht ist sie selbst ähnlich begabt wie Eugénie und will mit diesem Buch eine Lanze für solche wie sie brechen? Dass dies in einem historischen Roman geschieht und nicht in einem Fantasyroman ist sicher ein interessanter und guter Ansatz, weil er dem Ziel dient, die Spiritualität allgegenwärtig darzustellen. Und vielleicht ist es auch schlau, den Leser vor der Lektüre nicht wissen zu lassen, warum Eugénie in die Salpêtrière eingeliefert wird - um voreingenommene Leser nicht direkt abzuschrecken und ihnen währende der Lektüre zu zeigen, dass es 'normal' nicht gibt. 

Vor allem lernt der Leser aber, wie abartig dominant und überheblich Männer ihre vermeintliche Überlegenheit gegenüber dem 'schwachen' Geschlecht ausgenutzt haben - und wie ein gewisses Erbe dieser Einstellungen auch heute noch präsent ist. Um das zu vermitteln, hätte es gar keiner Geister bedurft, für aufgeschlossene Leser ist die Auseinandersetzung damit aber noch ein zusätzlicher Bonus.