Rezension

Warten auf Frieden

Nesthäkchen und der Weltkrieg - Else Ury

Nesthäkchen und der Weltkrieg
von Else Ury

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Krieg ist ausgebrochen. Nesthäkchen und ihre Brüder sind allein mit ihrer Großmutter in Berlin. Der Vater ist als Arzt eingezogen worden, die Mutter ist in England bei Verwandten und wann sie nach Hause kommen kann, ist fraglich. Nesthäkchen lässt sich aber nicht unterkriegen. Mit Begeisterung und Neugier reagiert sie auf die veränderten Zeiten und hat auch jetzt eine Menge zu lernen.

Das Buch, das seit Jahrzehnten nicht mehr zu einem anständigen Preis erhältlich war – als unlesbar bereits zu seiner Veröffentlichungszeit eingestampft, endlich wieder erhältlich. Meine Erwartungen waren also gemischt, obwohl ich ein großer Fan der Nesthäkchen-Reihe bin. Ich wurde angenehm überrascht. Das Buch lässt sich erstaunlich gut lesen und vermittelt einen hervorragenden Eindruck von der Stimmung des Volkes zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Verklärt? Selbstverständlich – zum einen ist es in der Zeit geschrieben worden, dann berichtet es aus der Sicht eines Kindes und schließlich spielt es ausschließlich von 1914-1916. Die Jahre, in denen der Krieg noch gefeiert wurde. Gerade als Zeitdokument lässt sich dieses Buch sehr schön lese. Ich meine sogar Kritik an dem Geschehen zu lesen. Fast alle Aktionen Nesthäkchens im Namen des Patriotismus‘ stellen sich als grausam und schlicht  verkehrt heraus. Der nette asiatische Nachbar, den sie als bösen Japaner tyrannisiert, entpuppt sich als Siamese und Resultat der Aktion ist eine verlorene Freundschaft. Am deutlichsten wird der falsche Patriotismus an der neuen Klassenkameradin vorgeführt. Nesthäkchen diffamiert diese als polnische Spionin und macht ihr das Leben zur Hölle – bis sich sehr spät herausstellt, dass das arme Mädchen die Tochter eines angesehenen deutschen Generals ist. Alles in allem kommen Nesthäkchen und der Patriotismus nicht sonderlich gut weg.

Die Schattenseiten des Krieges werden nur angedeutet. Lebensmittelknappheit, Geldentwertung, Verstümmelung und Tod an der Front – ab und an blitzt die Realität zwischen den Zeilen auf. In Gedenken an das Buch „Im Westen nichts Neues“ möchte ich wagen zu behaupten, dass Kinder aus relativ privilegierten Familien von der Realität dieses Krieges nicht sonderlich viel mitbekommen haben. Vieles blieb der normalen Bevölkerung, die mit der Front nichts zu tun hatte, ohnehin verborgen. Insofern gibt das Buch einen wunderbaren Einblick in das Alltagseben in Berlin zu Beginn der Kriegsjahre. Das Buch bietet viel Diskussionsstoff und viele Möglichkeiten zum Nachdenken über eine Zeit ohne andere Informationsmöglichkeiten als die staatlich kontrollierte Tageszeitung. Ein Zeitdokument, das seinesgleichen sucht!

Das Manko dieser Ausgabe: ich finde es sehr lieblos gemacht. Ein nichtssagendes, nostalgisch sein wollendes Cover und im Taschenbuchformat – dass auf Illustrationen verzichtet wurde ist für mich schon keine Überraschung mehr. Schade. Es wäre wirklich mehr drin gewesen und sei es, dass man sich mehr Mühe mit dem Cover gegeben hätte.

Trotzdem: danke, dass dieses seltene Mädchenbuch wieder zugänglich gemacht wurde – unbearbeitet und auch im Print-Format!

Ich wünschte es würden sich mehr Verlage um die alten Kinder- und Jugendbücher bemühen – und sei es, dass sie nur auf Anfrage auch im Print-Format zur Verfügung gestellt werden.

Eine klare Leseempfehlung für alle Fans der Nesthäkchen-Bücher, alter Mädchenbücher und alle die einen Einblick in das Denken und Schreiben zu Beginn des Ersten Weltkrieges gewinnen möchten.