Rezension

Wales - ein anderes England

Das Leben der Rebecca Jones - Angharad Price

Das Leben der Rebecca Jones
von Angharad Price

Bewertet mit 4.5 Sternen

Rebecca Jones wird Anfang des letzten Jahrhunderts in eine kleine ländliche Gemeinde im Maesglasau Tal in Wales hineingeboren. Ihre Familie hat das Land dort seit über tausend Jahren bewirtschaftet. Drei ihrer Brüder sind von einer genetisch bedingten Blindheit betroffen, und gerade dieses Handicap ermöglicht ihnen den Zugang zu Bildung und Erziehung außerhalb von Wales. Rebecca und ein weiterer Bruder aber bleiben zurück und bewirtschaften die Farm, halten fest an ihrer Sprache und Tradition, der heraufziehenden Moderne zum Trotz.Rebeccas Erinnerungen erreichen uns mit anrührender Würde und Innigkeit. Kraftvoll und poetisch beschwört Angharad Price den Wandel der Zeiten und eines Lebens herauf, ihre Sprache, ihr Stil, sind von unvergesslicher Präzision und Anmut. Und am Ende lüftet die Erzählerin ein Geheimnis, das dem Leser den Atem raubt. (Verlagsseite)

Zur Autorin:

Angharad Price wurde in Wales in der Nähe von Caernafon geboren. Sie ist Schriftstellerin, Kritikerin und Übersetzerin und unterrichtet Walisisch an der Bangor University. ›Das Leben der Rebecca Jones‹ ist ihr zweiter Roman, der bereits bei Erscheinen als erster walisischer Klassiker des 21. Jahrhunderts gerühmt wurde. Im Jahr 2012 feierte die Familie das tausendjährige Überdauern ihres Farmerlebens im Maesglau Valley. ( Verlagsseite)

Manchmal passiert es: Man greift zu einem Buch, obwohl man den Autor nicht kennt, nur weil der Klappentext gefällt. Dann liest man und stellt fest: Man hält ein Kleinod in der Hand.

Die Autorin erzählt von ihrer eigenen Familie, der Farm, die jahrhundertelang von ihr bewirtschaftet wurde, vom harten Leben im walisischen Maesglasau-Tal. Im Mittelpunkt steht Rebecca, die ihr langes Leben gemeinsam mit Eltern und Geschwistern – später mit deren Familien – auf der Farm verbringt; sie erlebt Geburten und Todesfälle, arbeitet im immergleichen Rhythmus der Jahreszeiten auf den Feldern, im Stall und im Haushalt, muss sich von ihren Träumen und Zukunftsvisionen verabschieden – das geringe Einkommen der Familie wurde für die Bildung der blinden Brüder gebraucht, nicht für die des Mädchens.

Vor dem Leser breitet sich das Panorama einer Kultur aus, die mitten in England blühte und doch anders war. Auch Atmosphäre und Stimmung in Prices’ Buch findet man eher in der irischen Literatur wieder.

Ein stiller leiser Roman, der an einzelne Ereignisse in Rebeccas Leben erinnert. Damit folgt er der Realität, wo man sich auch nicht – wie in Romanbiographien – minuziös an Tage, Wochen, Jahre erinnert, sondern nur an punktuelle Begebenheiten. Diese wiederum gewinnen durch die Erinnerung eine besondere Bedeutung, ebenso wie die Menschen, die mit ihnen verbunden sind.

Der walisische Titel (wörtlich übersetzt: Oh, zieh hinfort den Schleier) stammt aus einer Hymne Hugh Jones’ (1816-1897), eines bekannten walisischen Archidiakons der anglikanischen Kirche und Vorfahre der Familie. Gleichzeitig wurde er Titel eines Dokumentarfilms von 1964 über die drei blinden Brüder, den sich die Familie im Haus eines Nachbarn ansah. Den ganzen Hymnus kann man auf Seite 153 nachlesen.

Die walisische Kultur und Sprache sind, wie Jane Aaron im Nachwort sagt, akut gefährdet. Nicht umsonst galt das Original dieses Buches als unübersetzbar. Dass es, über den Umweg der englischen Fassung, jetzt in Deutsch vorliegt, rückt das Problem der aussterbenden Kultur nun auch in unser Bewusstsein; gut so, damit die Welt nicht wieder ein Stück ärmer wird (auch wenn wir hier nichts dagegen machen können).

Ob die Pointe am Ende tatsächlich dem Leser den Atem raubt? Ein wenig dick aufgetragen, diese Aussage. Dennoch verblüfft die Pointe.

Fazit: Eine ganz besondere (oder gar keine?) Biographie.