Rezension

Von der Macht der Fantasie

Der Klang der Farben - Jimmy Liao

Der Klang der Farben
von Jimmy Liao

Bewertet mit 4.5 Sternen

Wie klingen Farben? In seinem Bilderbuch für Erwachsene „Der Klang der Farben“ beschreibt Jimmy Liao, wie ein blindes 15-jähriges Mädchen mit der U-Bahn durch eine Stadt fährt. Was sie nicht sehen kann, stellt sie sich vor. Traumbild reiht sich an Traumbild, eines bunter und fantasievoller als das andere.

Bald schon wird deutlich: diese Illusion lässt sich nicht immer aufrechterhalten – das Mädchen wird müde, verfährt sich, stolpert… Unbeirrt hält sie dennoch an ihrer Suche nach dem allersüßesten roten Apfel, nach dem einen Blatt aus Gold fest. Vor allem aber ist es die „Suche nach dem Licht, das in meinem Herzen schimmert“. Diese spannungsgeladene Doppelbödigkeit macht das Buch tatsächlich zu einem Bilderbuch für Erwachsene. Die bezaubernde kindlich-naive Traumwelt rutscht immer wieder ins Melancholische, etwa bei der Erinnerung an die Zeit, als sie noch sehen konnte.

Letztlich ist es die Kraft der Fantasie und die Kraft der Dichtkunst, die Jimmy Liao in „Der Klang der Farben“ besingt. Sie können dem Menschen Halt geben, wenn das Leben selbst diesen Halt nicht mehr bietet. Kein Wunder, dass Liao sein Buch „den Dichtern“ gewidmet hat. Die Flucht aus der Realität freilich kann gelingen. So hat das Mädchen später ihren Schutzengel wieder, der am Anfang des Buches verlustig gegangen ist.

Liao zitiert am Ende des Buches einen Auszug aus dem Gedicht „Die Blinde“ von Rainer Maria Rilke. „Ich bin eine Insel“, sagt die Blinde in diesem Gedicht über sich selbst. Ein Satz, der auch auf das blinde Mädchen von Liao zutrifft. Überhaupt kann man Liaos „Der Klang der Farben“ als Adaption von Rilkes Gedicht lesen. Viele der Motive des Gedichts tauchen in den Zeichnungen auf.

Für mich hat sich „Der Klang der Farben“ nicht so leicht erschlossen wie die anderen Bilderbücher für Erwachsene des taiwanesischen Künstlers, die ich bisher gelesen habe. Fasziniert hat mich schließlich aber, wie Liao Rilkes Gedicht frei in Szene setzt und die Macht der Fantasie thematisiert.