Rezension

Vom Leben und Überleben

Melnitz -

Melnitz
von Charles Lewinsky

Bewertet mit 5 Sternen

In der Schweiz im Jahr 1871: Die jüdische Familie Meijer lebt in Endingen. Unumstrittenes Familienoberhaupt ist der Viehhändler Salomon. Seine Frau Golde immer bescheiden im Hintergrund, die Tochter Miriam, von allen Mimi genannt, manieriert und launisch und die Ziehtochter Chanele, ohne deren dienstbare Hand im Haushalt Meijer alles liegen bliebe. Der gleichförmige Alltag der Meijers wird durch das Erscheinen eines jungen Mannes - Janki Meijer, entfernte Mischpoche – gehörig durcheinandergebracht.

So beginnt Charles Lewinsky seinen Familienroman „Melnitz“. Von 1871 bis 1945 geht die epochale Geschichte der Meijers. Wir lesen vom Leben und Sterben. Vom wirtschaftlichen Fortkommen und Traditionen. Vom Politischen und Privaten. Von kleinen Querelen und großen Kriegen. Wir verabschieden uns von lieb gewonnen Charakteren und begrüßen die neu geborenen.

Auch wenn das Buch in der Neuauflage im Diogenes Verlag über 900 Seiten stark ist, gibt es bei Lewinskys Erzählfreude keine Längen. Alles hat seine Zeit und seinen Platz. Lewinskys Sprache ist pointiert, voller Wortwitz und Ernsthaftigkeit gleichermaßen. Die traditionelle jüdische Lebensweise findet genauso ihren Platz wie die politischen Ereignisse, die das Leben jüdischer Menschen aus der Bahn wirft. So wurde schon vor über hundert Jahren über das Schächten diskutiert und Tierschutz war damals wie heute nie wirklich der Grund für die Debatte. Selbstverständlich hat die Leserin einen Wissensvorsprung, was Juden im 20. Jahrhundert bevorstand. Doch wie Lewinsky nun diese Hürde des Erzählens meistert ist überraschend wie gelungen. Wir haben in diesem Roman keinen auktorialen Erzähler, der alles weiß, und sich so in den Vordergrund spielt. Wir haben Onkel Melnitz.

„Immer wenn er gestorben war, kam er wieder zurück……Er musste den Weg nicht sehen, um seinen Platz zu finden. Sein Stuhl stand bereit…Er setzte sich hin und war wieder da. War die ganze Zeit da gewesen.“

Melnitz ist der ungeladene Gast beim Seder, der von vergangen Pogromen erzählt, der weiß was war, was ist, was kommen wird. Der Ezzes gibt, provoziert, mahnt und sich erinnert.

Und so wird aus einem großartigen Familienroman ein großartiges Buch gegen das Vergessen, ein Buch vom Leben und Überleben.