Rezension

Verletzte Seelen

Flüchtige Seelen - Madeleine Thien

Flüchtige Seelen
von Madeleine Thien

Bewertet mit 5 Sternen

Es gibt über den Vietnamkrieg eine ganze Menge zu lesen, zu schauen, zu erfahren, wenn auch meist aus amerikanischer Sicht. Die Grausamkeiten, die als indirekte Folge davon im Nachbarland Kambodscha geschahen sind viel weniger bekannt. Dort hat 1975 eine maoistische Gruppierung namens Rote Khmer die Herrschaft übernommen, in kürzester Zeit alle Intellektuellen verhaftet, gefoltert und umgebracht, die Stadtbevölkerung aufs Land vertrieben und bis zu ihrer Vertreibung 1978 bis zu 2 Millionen Menschen das Leben gekostet. 
Der Roman "Flüchtige Seelen" beginnt 2006 in Vancouver/Kanada, wohin sich Janie, 1975 elfjährig hat retten können. Zuvor muss sie die Ermordung ihres Vaters, eines Übersetzers, miterleben und wird mit Mutter und jüngerem Bruder auf Land verschleppt. Dort müssen auch die Kinder hart arbeiten, der Bruder muss "Volksschädlinge" verhören und schließlich auch über ihre Ermordung entscheiden, die Familie wird auseinander gerissen und gemäß der Rote Khmer-Ideologie, dass jede Form der Individualität oder der mitmenschlichen Beziehungen wie sie z.B. eine Familie darstellt volksfeindlich sei, werden ihre Identitäten zerstört, sie müssen neue Namen annehmen, wissen nichts voneinander. Die Mutter stirbt recht bald an Hunger und Entkräftung, den Geschwistern gelingt gemeinsam die Flucht, aber der Bruder ertrinkt, als das Flüchtlingsboot von seeräubernden Fischern gekapert wird. Ein schreckliches Schicksal, das Madeleine Thien in schlichter, poetischer Sprache schonungslos und frei von jedem Pathos in Rückblicken erzählt. Denn neben den Gräuel, die das kambodschanische Volk erleben musste sind die Spätfolgen, die Traumata der Überlebenden, ihre Erinnerungen das Hauptthema des Buches. Janie hat "Glück gehabt", sie ist nun Neurowissenschaftlerin in Kanada, hat Mann und kleinen Sohn, leidet aber immer noch unter den damaligen Erlebnissen, was sich manchmal in Gewalt ihrem geliebten Kind gegenüber ausdrückt. Sie ist damit nicht allein. Ihr Professor, der japanisch stämmige Kanadier Hiroji leidet auch an den Spätfolgen der schrecklichen Ereignisse vor 30 Jahren. Damals ist sein Bruder James als Rotes Kreuz-Helfer im Kriegsgebiet verschollen und nie wieder aufgetaucht. Hiroji hat diesen Verlust nie verwunden und als er neue Nachrichten aus Kambodscha erhält, verschwindet er zunächst spurlos. Janie weiß, dass auch sie noch einmal in ihre Heimat zurückkehren muss. So rücken die Überlebenden in den Fokus, ihre Ängste und Traumata, ihre Versuche, das Geschehen tatsächlich zu ÜBER-, statt einfach nur weiterzuleben. Damit ist Madeleine Thien ein zutiefst berührendes, ein wichtiges Buch gelungen.