Rezension

Schwanger oder nicht - Eine chinesische Frau kann es nie recht machen

Die Gebärmutter -

Die Gebärmutter
von Sheng Keyi

Bewertet mit 4 Sternen

Großmutter Qi Nianci, geboren um 1900, hatte noch gebundene Füße. Ihr wurden als Kind die Fußknochen gebrochen und seitdem unter der Fußsohle festgebunden, weil chinesische Männer zu ihrer Zeit hilflose Frauen erotisch fanden. Ihre Nachkommen werden sich später fragen, wie eine Frau, die das Haus nur humpelnd am Stock verlassen kann, in ihrer Familie so große Macht ausüben konnte wie Qi. Ihr Clan lebte in Hunan auf dem Land, in einer in den 70ern des vorigen Jahrhunderts noch sauberen Gegend, umgeben von Lotos- und Fischteichen.

Auf die früh verwitwete Qi folgt Tochter Chu Anyun, die in der Ehe mit dem gut aussehenden Wu Aixing fünf Töchter und einen Sohn zur Welt bringt und mit 30 Jahren bereits verwitwet ist. Großmutter Qi wird bis ins hohe Alter Familienoberhaupt sein. Ihre Nachfolge muss sich Chu Anyun erst durch ein langes, moralisch vorbildliches Leben verdienen.

Chu Yun, Chu Yue, Chu Bing, Chu Xue, Chu Yu, die Namen der Töchter sind für westliche Leser:innen leicht zu verwechseln. Da man zur Zeit der Handlung Familienmitglieder auch als Erste Tante oder Vierte Schwester ansprach, habe ich Generation und Position in der Geschwisterreihe beim Lesen meist mitgedacht. Mit der Politik der Ein-Kind-Familie während der Mao-Zeit im Hinterkopf stelle ich mir die ungewöhnliche Zahl an Geschwistern als Fluch und Segen zugleich vor.

Tochter 1, die rundliche Chu Yun, wird in den 80ern sehr jung mit Yan Zhenqing verlobt, der als ambulanter Hähne-Kastrierer über die Dörfer zieht. Tochter 2, Chu Yue, kann damit verblüffen, dass sie mit 17 mit dem Beerdigungsunternehmer verheiratet und mit ihm eine lange zufriedene Ehe führen wird. Tochter 3, Chu Bing, die nie Bäuerin werden wollte, legt eine erstaunliche Karriere als Geschäftsfrau hin. Tochter 4 wird leicht übersehen, immerhin ist 4 eine Unglückszahl, während Tochter 5, Chu Yu 1990 ein Medizinstudium beginnt. Als ihre älteste Schwester aus Hunan nach Peking anreist, kommt das gemeinsame Thema von Mutter und Töchtern Chu auf den Tisch: der weibliche Körper, über den sie so gut wie nichts wissen. Ein Leben, das davon bestimmt wird, dass sie Kinder gebären können und sollen, von Abtreibungen und verpfuschten gynäkologischen Operationen. Chu Yun war unmittelbar nach der Geburt ihres zweiten Kinds zu einer laienhaften Sterilisation gezwungen worden, die ihr Leben bis heute überschattet; für eine neue Partnerschaft will sie nun die Operation rückgängig machen lassen. Schwangerschaft und Verhütung mit allen Risiken sind allein Sache der Frauen. Ledig oder verheiratet, Kinder oder keine, Frauen können es nur falsch machen – und ihre vernichtendsten Kritikerinnen sind andere Frauen. Deren Normen, wie eine Frau sich fortzupflanzen hat, erweisen sich als wenig verlässlich. Wenn Kinder rar sind, wird Moral zur Nebensache und eine sichtbar fruchtbare Frau zum begehrten Gut. Als Bruder Laibaos Tochter allerdings ungeplant schwanger wird, darf sie unverheiratet kein Kind zur Welt bringen, auch wenn es erwünscht und geliebt ist.

Die Handlung reicht von Ende der 70er Jahre bis circa 2015, kurz bevor die Ein-Kind-Politik in China offiziell beendet wird und umfasst das Schicksal von vier Generationen. Der Roman konzentriert sich jedoch nicht auf Probleme sehr junger Frauen in der Provinz. Er zeigt Chinas Wandel von einer Kultur, in der die Gemeinschaft stets Vorrang vor persönlichen Wünschen hatte zur aufstrebenden Wirtschaftsmacht, in der - für die Geschwister Chu nicht vorhersehbar - Phantasie und Geschäftstüchtigkeit gefragt war. Wie sie sich mit Fleiß und Mut durchschlagen, komponiert Sheng Keyi zu einem komplexen Familienroman.

Vorkenntnisse über chinesische Sitten können den Lesegenuss des Romans erheblich steigern.