Rezension

Schonungslos gegen jeden. Auch gegen sich selbst.

Tagebücher 1982-2001 - Fritz J. Raddatz

Tagebücher 1982-2001
von Fritz J. Raddatz

Wer schon immer ein „ganz anderes“, aber aufregendes (Kultur-)Geschichtsbuch lesen wollte und sich für die Jahre vor und nach der deutschen Wiedervereinigung interessiert, für den habe ich einen wunderbaren Zufallsfund aus dem Antiquariat, einen Geheimtipp, eine historische Schatztruhe: die „Tagebücher 1982-2001“ des früheren Vorzeige-Intellektuellen Fritz J. Raddatz.

 

Wer mit dem Autor Fritz J. Raddatz „Neuland“ betritt, wer den Journalisten, Essayisten und Romancier Raddatz noch nicht kennt, sollte diese Unterlassungssünde schnell korrigieren. Zum Beispiel mit seinen Tagebüchern. Denn darin blättert Raddatz auf über 900 Seiten Geschichte und Geschichten auf, hält der bundesrepublikanischen Gesellschaft den Spiegel vor. All dies auf seine ganz eigene, unnachahm­liche Weise: geistreich, scharfsinnig, hoch­empfindlich, treffend, witzig, feinfühlig, aber auch bitterböse, schonungslos und beleidigend. Rund 30 Seiten umfasst allein das Personenregister: Egal ob Günter Grass, Rudolf Augstein, Marion Dönhoff, Hans Magnus Enzensberger oder Helmut Schmidt, alle haben ihren Auftritt bei und mit Raddatz. Aber nur um in den meisten Fällen nach Kräften abgewatscht zu werden. Denn der Autor schont niemanden, übrigens am wenigsten sich selbst.

 

Natürlich ist das Ganze nicht ohne Lücken. Zudem ist FJR arrogant, eitel und degoutant. Doch seine Bissigkeit und sein Zorn, seine Selbstzweifel und seine Larmoyanz machen die Mixtur zu einem erfrischenden Vergnügen. Ein Lesespaß, der zwischendurch auch Platz für Nachdenkliches lässt. Etwa wenn Raddatz an sich „eine Mischung aus der Depression des ‚Abgemeldeten’ und der Wut des Verachteten“ entdeckt. Offenbart sich da einer, der von Selbstzweifeln geplagt ist, oder geht da einer unbeirrt seinen Weg? Die eigenen Schwächen benennt er ebenso gnadenlos wie die seiner Mitmenschen. Das Seltsame daran: Eigene Fehler benennt er oft und gern, lässt aber keinen als echten Vorwurf an sich heran, scheint vielmehr auf lauten Widerspruch zu hoffen.

Dennoch (oder gerade deshalb?) sind diese Tagebücher das Gegenteil langweiligen Geschreibsels, lesen sie sich doch wie ein aufregender Roman: Überraschend wie eine Zaubershow, spannend ein Krimi und lehrreicher als manches Seminar.

Letzter Hinweis: Das Spektakulärste an diesem Buch ist – zumindest mir mich – die Tatsache, dass es schon vor zehn Jahren, also noch zu Lebzeiten des 2015 verstorbenen Raddatz, erschien. Derart schonungslos Wahrheiten auszuplaudern, man könnte auch sagen, eimerweiße Gift über seine Mitmenschen zu kippen, erfordert – auch dann, wenn jedes Wort der Wahrheit entspricht – gewaltiges Selbstbewusstsein. Oder den Heldenmut eines Kamikaze-Piloten.