Rezension

Religion oder Sozialismus?

Gegenlicht
von Pirkko Saisio

Bewertet mit 4.5 Sternen

Pirkko Saisios Icherzählerin wächst in einfachen Verhältnissen in einem kommunistisch geprägten Haushalt in Helsinki auf. Ihr Vater war Kolonialwarenhändler und hatte Stalins Gesammelte Werke im Regal. Da Religion und Sozialismus sich gegenseitig ausschließen, scheinen ihr zunächst alle Berufswege versperrt zu sein. Noch hat sie ihre eigene Stimme als Autorin nicht gefunden, wird jedoch von ihrer Finnisch-Lehrerin gefördert. Im Wechsel zwischen  rückblickender Ichperspektive und Focus auf eine zweite Person (vermutlich ihr jüngeres Selbst) experimentiert die Erzählerin mit ihrem zukünftigen Handwerk, orientiert sich  jedoch noch stark an der Welt gelesener Kinderbücher. Dass sie sich Enid Blytons Georgina nahefühlt, deutet an, dass sie ihre Identität noch nicht gefunden hat. Würden Romanfiguren die Realität abbilden, müsste sie sich (allein durch ihren weiblichen Körper) als Mängelwesen begreifen, was wiederum das Unbehagen ihrer Eltern an  ihrer Entwicklung bestätigen würde.  Ihr Blick ist bereits der einer Autorin, ehe sie sich dessen bewusst wird.

Nach dem Abitur sieht die Erzählerin sich in der Schweiz erstmals mit einer Kultur konfrontiert, die sich (wie die Finnen) als herausragend wertet. Ihr romanhaftes Klischee vom armen Waisenkind muss sie dort bei der Tätigkeit in einem Kinderheim revidieren (in dem keine Waisen leben), wie auch die Hoffnung, als Erzieherin die Nähe zu finden, die sie in ihrer nüchtern denkenden Familie selbst vermisste.

Pirkko Saiso beschreibt in ihrem vor der Jahrtausendwende  verfassten Text ein stark abgeschiedenes Finnland, geprägt von der jahrzehntelangen Ära Kekkonen, die dem Land zwar Stabilität brachte, aber kaum Anregungen von außen zuließ.

Die 1949 geborene Autorin beschreibt die Welt einer jungen Frau aus einfachen Verhältnissen, deren Blick bisher allein auf sozialistische und religiöse Gemeinschaften gerichtet war und die sich schon als Schülerin in eine Außenseiterrolle gedrängt sieht. Für den Wettbewerb der Weltanschauungen, wie auch den Kampf um einen selbstbestimmten Lebensweg als Frau öffnet Saisios autofiktionaler Roman die Augen ihrer Leser:innen.

-----------

Reiheninfo

  1. Pienin yhteinen jaettava (1998)
  2. Gegenlicht
  3. Das rote Buch der Abschiede