Rezension

Poetischer Höhenflug

Wolgakinder - Gusel Jachina

Wolgakinder
von Gusel Jachina

Bewertet mit 3 Sternen

Oh, wie schön war „Suleika“, was habe ich mich auf dieses Buch gefreut, das leider im Verlauf vom potenziellen Highlight zum Flopp des Jahres mutierte. Damit habe ich nicht gerechnet. 

Gusel Jachina schreibt wundervoll, einfühlsam, lebendig, voller sprechender, origineller Bilder. Das tut sie auch jetzt, deshalb verzeiht man ihr lange, dass das, was sie erzählt, wirklich seltsam ist. 
Ich habe ein Buch über Wolgadeutsche erwartet und wohl auch bekommen, nur in sehr unerwarteter Verpackung. Eigentlich beobachtet man hier das Leben des Dorflehrers Bach, eines hoch sensiblen Schöngeists, der sich allmählich in reelle Verrücktheit hineinsteigert, plastisch und nachvollziehbar, soweit man Verrücktheit nachvollziehen kann. 

Durch seine Augen verfolgt man das Schicksal eines Dorfes von Wolgadeutschen, die ein sehr eigenes Volk im sowjetrussischen Gefüge sind und sich mit den sozialistischen Reformen sehr schwer tun. Das ist in der Theorie eine hübsche Idee, wäre Bachs Blick auf die Welt nicht gar so verstiegen, sein Empfinden nicht gar so egozentrisch. 
Zwischendurch beobachtet man gelegentlich Stalin als dessen Gegenpol, einen größenwahnsinnigen Diktator, der Menschen nur noch als Massen wahrnimmt und sie willkürlich regelt, leitet und verschiebt. 

All das liefert durchaus eine Idee der Situation der Wolgadeutschen vor und während des Zweiten Weltkriegs, aber mehr als eine Idee bekommt man nicht. Der Hauptfokus liegt auf den sehr speziellen Befindlichkeiten eines Irren, die wunderbar geschildert werden, falls man sowas lesen möchte. Ich war erst erstaunt, dann verstört und dann sehr enttäuscht. 
„Die in Petersburg errichtete neue Staatsmacht hatte den Himmel abgeschafft, die Sonne für nicht existent erklärt und den festen Boden unter den Füßen durch Luft ersetzt. Darin strampelten die Menschen nun herum, rissen erschrocken die Münder auf, konnten nicht widersprechen, wollten aber auch nicht zustimmen.“
Was auch immer man hier über die historische Situation zu lesen bekommt ist poetisch übersteigert oder märchenhaft verklärt. Das klingt fabelhaft und ist auch atmosphärisch, nur der Informationsgehalt ist schwammig. Gelegentliche Referate zur Lage machen das nicht wett. 

Mit diesem Buch hat sich die Autorin in einen poetischen Rausch begeben und dabei die Bodenhaftung verloren. Das kann passieren. Ich hoffe, mit ihrem nächsten Buch findet sie den Weg auf die Erde zurück. Ihre Sprache ist so schön.