Rezension

Neues von der "Göttin des Gemetzels"

Glücklich die Glücklichen - Yasmina Reza

Glücklich die Glücklichen
von Yasmina Reza

Darf man das?

„Wir waren bei den Wochenendeinkäufen im Supermarkt. Irgendwann sagt sie, stell dich schon mal in die Käseschlange, ich kümmer mich um die anderen Lebensmittel.“

Das ist der erste Satz und er macht schon deutlich, wie zielstrebig Yasmina Reza auch in diesem Werk vorgeht. Es wird keine Zeit mit Nebensächlichkeiten verschwendet; es gibt keine Vorbereitung, man ist sofort mittendrin.

Mittendrin im Wochenendeinkauf eines modernen Paares, das sich den Einkauf teilt. Vielleicht trinken sie nachher noch gemütlich einen Latte Macchiato, vielleicht haben sie liebgewonnene Rituale, wer weiß.

Ich lehne mich entspannt zurück und lese weiter.

„Als ich wiederkam, war der Einkaufswagen halb voll mit Müsli, Keksen, Pulvernahrung in Tüten und lauter Dessertcremes, und ich sag, wozu das alles? – Wie, wozu das alles? Ich sag, wozu soll das alles gut sein? – Du hast Kinder, Robert, die mögen Crunchy-Müsli, die mögen Schokotäfelchen, auf Kinder-Bueno stehen sie total, hielt mir die Packungen hin, und ich sag, das ist doch absurd, sie mit Zucker und Fett vollzustopfen, dieser Einkaufswagen ist absurd, und sie darauf, was für Käse hast du gekauft?“

Spätestens jetzt ist es vorbei mit dem entspannten Zurücklegen, ganz im Gegenteil. Ich sitze senkrecht, halte buchstäblich die Luft an und lasse mich vom Text mitreißen, und das bei jedem einzelnen der insgesamt 21 Kapitel. Jedes dieser Kapitel wird aus einer anderen Perspektive erzählt und schildert jeweils aus subjektiver Sicht bestimmte Stationen der einzelnen Leben. Dabei nehmen sie teilweise Bezug zu bereits bekannten Personen und man bekommt mit der Zeit eine Ahnung, wie alle und alles zusammenpassen könnte.  Es macht unglaublichen Spaß, sich zu erlesen, wie glasklar Yasmina Reza die unterschiedlichsten Charaktere zeichnet:  sofort entstehen im Kopf Personen mit all ihren Eigenarten und Beziehungen; gleichzeitig wettet man schon insgeheim mit sich, wie viele Sätze Yasmina Reza dieses Mal wohl brauchen wird, um das ganze schöne Bild zunichte zu machen, um die sorgfältig aufgebaute und gepflegte Fassade bröckeln und das ganze Gebäude von Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten und Wahrheiten erbarmungslos einstürzen zu lassen.

Leise Zweifel kommen auf und ich frage  mich, ob man das eigentlich darf – mit Spaß und Freude und Lust zuschauen, wie die Protagonisten Schicht um Schicht freigelegt werden, bis sie förmlich nackt vor einem stehen. Nackt und allein mit ihrer Angst und ihrer Wut, ihrem Trotz, ihrer Liebe und dem Wissen von Verrat, ihrer Lust und ihrer Neugier. Zerbrechlich in ihrem verzweifelten Ringen um das Aufrechterhalten von Status, Moral und Haltung.

Und ich komme zu dem Entschluss, dass man darf. Man sollte sogar, wenn man es von jemandem wie Yasmina Reza vorgeführt bekommt. Auf ihre ganz spezielle Weise versteht sie es, die Menschen zu entblättern, ohne sie dabei bloßzustellen oder lächerlich zu machen. Sie wertet nicht und moralisiert nicht. Was sie übrig lässt, ist die Quintessenz dieser Menschen. Das, was sie ausmacht, weil sie ihre Art und ihre Art zu leben sie zu dem gemacht hat, was und wie sie sind. 

 

Kommentare

katzenminze kommentierte am 26. Juli 2017 um 12:17

Oh, zum Glück habe ich hier reingeschaut. Danke für die tolle und begeisterte Rezi! Gefällt mir sehr! Nur schade, dass deine Sternebewertung fehlt. Ich wollte schon "weitergehen" weil das Büchlein insgesamt relativ wenig Sterne hat. Jetzt wandert es aber auf meine Wunschliste! ^.^

wandagreen kommentierte am 26. Juli 2017 um 17:21

Finde ich auch. Doch ohne Sternewertung gehe ich auch immer vorüber !Es ist mir einfach zu mühsam, die Wertung der jeweiligen Rezensentin herausklämüsieren zu müssen.