Rezension

Meisterhaft erzählt: Selbstjustiz, Mitläufertum, Schuld

Der Keim -

Der Keim
von Tarjei Vesaas

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Meisterwerk: Vom Weiterleben nach schwerer Schuld – grandioser Roman, bei dem jeder Satz wichtig ist

6 von 5 Sternen ;-)

Tarjei Vesaas, dieser vom Guggolz-Verlag wieder entdeckte norwegische Autor! Ich fand schon 'Die Vögel' gut, noch besser 'Das Eis-Schloss', aber nun dieses hier! Harter Tobak, nichts für Zartbesaitete, aber so ist das Leben und es ist gut, hinzugucken und sich Gedanken über Richtig und Falsch zu machen.

Eine idyllische Insel in einem norwegischen Fjord, landwirtschaftlich geprägt, harte Arbeit. Ein Fremder kommt, der dort Ruhe und Frieden sucht, ein Traumatisierter, der Heilung sucht. Aber ist die Insel wirklich so idyllisch und friedlich? Schon auf den ersten Seiten bei der Schilderung der Schweinekoben schleichen sich Sätze ein, die Böses vermuten lassen. Das Ganze kulminiert dann in schrecklichen Szenen mit wild gewordenen Schweinen und ausgerechnet der fremde junge Mann muss das zufälligerweise mit ansehen. Das hat ungeahnte Folgen bei ihm, der ohnehin labil ist und mit schweren Erlebnissen ringt. Etwas Furchtbares geht in ihm vor, 'ein Aufblitzen von bösem Licht' (54).

Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf und die Menschen verhalten sich auch nicht anders als die Schweine, was ihr aggressives Verhalten anbetrifft – das alles von Vesaas eindringlich beschrieben ('Blutdurst, Raserei'). Alle laden mehr oder weniger schwere Schuld auf sich.

Als Ernüchterung eintritt, sind alle Beteiligten geschockt, durcheinander und wissen nicht, was sie von sich selbst halten sollen. Es setzen typische Mechanismen ein: sich Rechtfertigungen zusammenbasteln, die Schuld bei anderen suchen, hier beim jungen Rolv, der sie angeführt und 'es' getan hat. Der ist selbst völlig außer sich und sucht Verständnis bei Mutter Mari und Vater Karl. Dieser vertritt eine ganz klare Linie: keine Selbstjustiz. Und da ist das Problem, das auch Karl zerreißt: wir alle müssen uns an die Gesetze halten, sonst würde Mord und Totschlag herrschen und der Willkür Tür und Tor geöffnet sein. Aber: die Gemeinschaft und sein Sohn haben 'es' für die Tochter bzw. Schwester getan. - Alle sind in einer schwierigen Situation, die fast ausweglos erscheint. Wie wird es weitergehen? Kann man so weiterleben? Nachdenken über sich selbst, Eingeständnis der Schuld, eine Art Läuterung?

Ist es nun der Keim des Bösen oder des Guten, der Keim eines Weiterlebens? Ich tendiere zu Letzterem, wofür es kleine Anzeichen gibt und auch Worte:

'Man musste seinen Platz wieder einnehmen... (218) - 'Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein.' (217)

Was für ein Buch! Jeder Satz ist wichtig und man muss zwischen den Zeilen lesen und die Atmosphäre erspüren. Vesaas Sprache ist verknappt, passend zu den Inselmenschen, aber nicht simpel, denn sie transportiert eine ganze Welt von Bedeutung. Es ist ein Buch, das nachhallt, das in seiner Problematik zeitlos ist: das Böse im Menschen, die Tendenz, sich in der Masse zu Schandtaten verführen zu lassen, der Umgang mit Schuld und die Frage, wie ein Leben danach möglich ist.

Für mich ist jetzt schon klar: ein Highlight in diesem noch jungen Jahr.

P.S. Die Rückseite des Buches verrät in etwa, was passiert. Wer das nicht wissen will, sollte es nicht lesen.