Rezension

In der Uckermark fliegen Steine

Kintsugi - Miku Sophie Kühmel

Kintsugi
von Miku Sophie Kühmel

Es ist Winter und Wochenende. Ein Haus an einem See in der Uckermark. Miku Sophie Kühmel erzählt in „Kintsugi“ von schneidender Kälte in der Luft (und zwischen den Menschen), aber auch vom Knirschen des gefrorenen Schnees (und vom Knirschen zwischen den Menschen). Was als ruhiges Wochenende geplant ist, läuft völlig aus dem Ruder, ruhig bleibt allenfalls der See.

Beginnen wir mit dem Wichtigsten: Was zum Henker ist Kintsugi? Die Antwort: Es ist die traditionelle japanische Kunst, gesprungene Keramik zu reparieren. ACHTUNG: Hier ist nicht von einer Arbeit des schödens Zusammenflickens die Rede, sondern von einer Kunst, die das reparierte Objekt wertvoller macht, als es vorher war, und zwar mit Gold.

 

Natürlich steht die von Miku Sophie Kühmel gewählte, namengebende Metapher für das Bemühen aller Menschen, die Scherbenhaufen ihrer Leben zu reparieren. Ganz besonders gilt das für die in Trümmer liegenden Gefühlswelten der vier Akteure ihres Buches: Der junge Archäologieprofessor Max, sein Lebenspartner, der exzentrische Künstler Reik, dessen Ex-Freund Tonio sowie dessen Tochter Pega, die sich übers Wochenende in der Uckermark treffen, und zwar im Ferienhaus von Max und Reik. Man redet viel, es geschieht scheinbar wenig Spektakuläres, doch zeichnet sich schnell ab, dass das vermeintliche Traumpaar nach 20 Jahren womöglich vor der Trennung steht.  

 

Das Besondere von Kühmels Buch ist dessen Konstruktion. Alle vier Figuren kommen nacheinander als Ich-Erzähler zu Wort. Jeder kommentiert das Leben dieser ungewöhnlichen vierköpfigen "Familie" aus seiner jeweiligen Sicht. Dazwischen treffen sich die Protagonisten zu Gesprächen in der Küche. Kühmel skizziert so ein Beziehungsgeflecht, in dem trotz beruflichem Erfolgs, materieller Sicherheit und langjähriger Beziehung alle Akteure verunsichert sind von ihrem Leben. Die einzelnen Ich-Erzähler schildern jeweils ihre heile Welt, doch der Zusammenklang aller vier Blickwinkel offenbart die riesigen Risse im Idyll.

 

Das Buch schildert dazu die leeren Stellen und die schwarzen Löcher im Leben dieser vier privilegierten Menschen, denen es eigentlich mehr als gut geht. Sie leben ohne jede finanzielle Not, gehören dem linksliberalen Bürgertum an und genießen die großen Freiheiten unserer liberalen Gesellschaft.

Und auch wenn das "Scheunentor", mit dem schon im Buchtitel "winkt", arg plakativ ist, so bleibt doch richtig, was es uns zuruft, nämlich dass jeder Mensch auf der Suche nach dem goldenen Kitt ist, mit dem er die Bruchstücke seiner Seele wieder zusammenfügen kann.

 

Dabei gerät Kühmels Suche nach den Ursachen des Unbehagens zu einer spannenden Reise ins Seelenleben einer modernen Patchwork-Familie, die es sich in einem Glashaus aus Selbstgefällig­keit und Selbstgerechtigkeit bequem gemacht hat.

Doch in der Uckermark fliegen die Steine …