Rezension

Identität und kollektive Schuld - komplexer wie lohnender Familienroman

Pflaumenregen -

Pflaumenregen
von Stephan Thome

Bewertet mit 5 Sternen

Als Harry Chen/Chen Hua-li und sein jugendlicher Sohn Paul für einen kurzen Besuch aus den USA zu seinen betagten Eltern nach Taipeh/Taiwan reisen, wird Harry bewusst, dass die Eltern mit über 80 Jahren nicht mehr lange allein leben können. Wenn er erfahren will, warum Vater und Mutter jeweils ein eigenes Stockwerk bewohnen und sich offenbar schon seit Jahren anschweigen, muss er jetzt mit seiner Mutter sprechen. Harry lehrt an einer kleinen amerikanischen Universität Chinesisch und ist mit Helen verheiratet, die aus einer kantonesisch-stämmigen Familie stammt. Allein diese Konstellation würde mit der Frage einiges Konfliktpotential bergen, welches China-Bild den Kindern der Chens vermittelt werden soll – taiwanesisch oder kantonesisch? Harry hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass Paul bei einem Taiwan-Aufenthalt „richtiges Chinesisch“ lernen wird. Auch dieses Problem muss bald geregelt werden. Gemeinsam mit seiner Nichte Julie, der Tochter seines älteren Bruders, nimmt Harry die Recherche auf, warum aus Umeko Ri/Lee, der emsigen Schülerin zur Zeit der japanischen Kolonisierung Taiwans, „A-mah“/Oma seine lange verstummte Mutter geworden ist, für die es offenbar nur ihre Pflanzen auf dem Dach des Hauses zu geben scheint.

Die Rahmenhandlung von Stephan Thomes Roman führt zurück in die 40er Jahre in einen Bergwerksort im Norden der Insel, die damals eine Kolonie des japanischen Kaiserreichs ist. Umeko und ihr Bruder Keiji werden zu gehorsamen Japanern erzogen. Der Kolonialmacht passt sich die Familie an, indem sie japanische Namen annimmt. Ihr Vater leitet dort eine Goldmine, die erschöpft zu sein scheint und durch zunehmendes Interesse an Kupfervorkommen für Kriegszwecke gerade an Bedeutung verliert. Die Teehandlung der Familie leitet „dritter Onkel“, der Bruder des Vaters. Als 1945 die Kuomintang Taiwan besetzen, zerbricht das Konzept des jüngeren Bruders Ri/Lee, der bis dahin geglaubt hatte, mit der Unterwerfung unter die Kolonialmacht alles für sich und seine Familie richtig gemacht zu haben. Chinesen aus dem Norden haben nun das Sagen, Chinesisch wird zur Landessprache, die japanischen Namen der Bewohner werden gewaltsam sinisiert. Umeko muss nun Ching-mei gerufen werden – und Schulunterricht wird ihr nie wieder Freude machen. Mir ist es die gesamte Lektüre hindurch schwer gefallen, das Mädchen mit den wehenden Zöpfen nicht „Umeko“ zu nennen. Harrys Mutter scheint durch die Sinisierung und in ihrer Ehe 70 Jahre lang namenlos gewesen zu sein. Beide Kinder waren stets nach japanischen Höflichkeitsvorstellungen zur Ehrerbietung gegenüber Erwachsenen angehalten worden. Für „Ching-mei“ jedoch bringen die Kriegsjahre die bittere Erkenntnis, dass ihre Eltern sich um „Chin-chih“/Keiji auf andere Weise sorgen als um ihre Tochter. Zum Schicksal von Harrys Mutter und zum Verbindungsstück zwischen den Ris und den Chens wird ihr Bruder Keiji der Schlüssel sein – doch bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor der Familie. Die sehr persönliche Botschaft des Romans an mich war die Einsicht, wie sehr Umekos Erlebnisse denen meiner Mutter und Großmutter in einem anderen Teil der Welt gleichen und wie ähnlich sich wiederum Gesellschaften sind, die in ihre Kriege Jugendliche als Kanonenfutter schicken, die noch nicht einmal volljährig sind.

Stephan Thome füllt mit seinem Familienroman einen weißen Fleck auf der literarischen Landkarte, da bisher nur selten Romane AUS Taiwan ins Deutsche übersetzt wurden. Jade Chens „Die Insel der Göttin“ (2008) und „Blick übers Meer. Erzählungen aus Taiwan“ (1982) haben bereits antiquarische Bedeutung. Mit profunden Kulturkenntnissen legt Stephan Thome einen erstaunlich allgemeingültigen Roman vor über Assimilierung, Kriegsverbrechen, kollektive Schuld und die Tatsache, dass Sprache, ethnische Herkunft, Staatsangehörigkeit und Werte-Kanon nicht deckungsgleich sein müssen. Mit dem Überlappen von Sprechen, Handeln und Herkunft in den Familien Ri und Chen hält er uns Europäern den Spiegel vor; denn genau diese Pfeiler entlarven unsere aktuellen Probleme uns als Einwanderer-Kultur anzunehmen.

Durch den erzwungenen Namenswechsel zweier Familien und die Notwendigkeit, sich den genaueren historischen Hintergrund selbst zu erarbeiten, ist „Pflaumenregen“ ein komplexer, aber absolut lohnender Roman, der seine Leser mit Identitätssuche und kollektiver Schuld konfrontiert.