Rezension

"Ich wurde gehängt, aber ich bin nicht gestorben"

Totenmädchen - Mary Hooper

Totenmädchen
von Mary Hooper

*Worum geht's?*
Anne Green fristet ihr Leben als einfache Magd im Dienste von Sir Thomas Reade, einem der einflussreichsten und vermögendsten Männer in Oxford. Aber bald wird sich das ändern, und sie wird die Herrin über das Landgut im Dorf Dun's Tew werden! So lauten zumindest die Versprechungen, die Reades Neffe Geoffrey der naiven Anne gab, um sie zu verführen. Erst als es viel zu spät ist und sie sein Kind unter ihrem Herzen trägt, begreift sie ihre schreckliche Lage. Nach einer Fehlgeburt wird sie zudem zu Unrecht der Kindestötung bezichtigt. Dank Thomas Reades Einfluss, der den Ruf seiner Familie schützen will, spricht der Richter das Urteil: Tod durch den Strang. Anschließend soll Anne den jungen Medizinstudenten als Lehrmittel dienen. Doch als einige Stunden nach der Hinrichtung die Sezierung beginnen soll, stoppt Student Robert die ausübenden Ärzte: Annes Augenlider flattern...

*Kaufgrund:*
Mary Hooper ist für mich DIE Autorin, was historische Romane für Jugendliche angeht. Ich habe jedes ihrer Bücher verschlungen und war begeistert. Selbstverständlich musste ich auch "Totenmädchen" lesen!

*Meinung:*
"Totenmädchen" ist in zwei Teile aufgespalten:
Im ersten Part wechseln von Kapitel zu Kapitel die Perspektiven zwischen Annes persönlicher Sicht und Roberts Wahrnehmung, wiedergegeben durch einen personalen Erzähler. Während Anne sich in einer tiefen Dunkelheit befindet, und nicht weiß, ob sie sich nach ihrer Hinrichtung nun im Himmel oder in der Hölle befindet, lässt sie ihr Leben und die Umstände, die zu ihrem Tod geführt haben, Revue passieren. In den Kapiteln, die sich mit Robert beschäftigen, erlebt der Leser mit, wie die "Sezierung" vonstatten geht. Außerdem lernt man den jungen Medizinstudenten besser kennen, der seit dem Tod seiner Mutter unter ausgeprägten Sprachschwierigkeiten leidet.
Im zweiten Teil des Buches geht es dann ausschließlich um Anne und ihr Leben nach der Wiederbelebung.

Die beiden Charaktere Anne und Robert sind eindrucksvolle Protagonisten, wie man sie sich als Leser wünscht. Besonders Anne, die trotz ihrer jungen sechszehn Jahre eine unglaubliche Geschichte zu erzählen hat, überzeugt mit ihrer authentischen und natürlichen Art. Obwohl man als Leser wegen ihrer naiven Art sehr oft den Kopf schütteln muss, kann man sehr gut mit ihr mitfiebern und mitleiden. Ihre Träume, so leichtgläubig sie auch sind, sind alles, woran Anne hoffen kann. Mit Robert hat das Schicksal es ebenfalls nicht gut gemeint. Durch den Tod seiner Mutter ist es zu einem stotternden (nunja, mit seinem putzigen Haushuhn Scarlett kann er sich normal unterhalten!), unbeholfenen Mann herangewachsen, der sich durch seine zurückhaltende Haltung in das Herz des Lesers schleicht. Selbst die Nebenfiguren wissen zu überzeugen und glänzen mit ihren Stärken und Schwächen. Sie werden nicht zu stark in den Hintergrund gedrängt und geraten mit ihren ganz individuellen Persönlichkeiten bis zur letzten Seite nicht in Vergessenheit.

Obwohl der Leser bereits zu Beginn weiß, wie der Roman ausgehen wird, hat es die Autorin geschafft, einen riesigen Spannungsbogen zu schaffen, der sich über das gesamte Buch erstreckt. Nicht zuletzt durch den leichten und sehr flüssigen Schreibstil wird man in einen Lesefluss gezogen, aus dem es (fast) kein entrinnen gibt. Man möchte bis zuletzt wissen, was Anne in ihrem kurzen Leben ertragen musste und welche Umstände zu der Hinrichtung führten.

Hooper versetzt ihre Leser in "Totenmädchen", genauso wie in ihren anderen Romanen, in ein England längst vergangener Tage. Das Beeindruckende dabei ist, dass es sich beim Lesen keinesfalls vergangen anfühlt. Alles erscheint so bildhaft, realistisch und nah im Kopf des Lesers, und man mag kaum glauben, dass die Geschichte im Jahre 1650 spielt. Hooper lässt sehr viele Hintergrundinformationen in ihre wahrheitsgetreue Handlung fließen, durch die nicht nur die Realitätsnähe unterstützt, sondern auch ein lehrreicher Effekt erzielt wird.

Das Ende ist für mich der einzige, dafür aber ein großer Minuspunkt. Es ist gut abgerundet worden und lässt die unglaubliche Geschichte sehr sanft ausklingen - eigentlich gibt es daran nichts zu meckern. Leider kam mir dieser Abschluss insgesamt zu abrupt! Der komplette zweite Teil des Buches ist viel zu knapp geraten. Einige Seiten mehr, in denen genauer beschrieben wird, wie Anne mit ihrem Neuanfang umgehen wird, hätten der Handlung gut getan. Zwar kann man in den Anmerkungen der Autorin nachlesen, wie es mit Anne weiterging, aber diese zwei nebensächlichen Sätze geben mir nicht das Gefühl, dass "Totenmädchen" abgeschlossen ist. Schade um das ungenutzte Potenzial!

*Cover:*
Ein schlafendes Mädchen, das wohl die komatöse Anne darstellen soll, und ein riesiger Schriftzug des Titels sind auf dem Cover zu sehen. Ein Bezug zum Inhalt, den ich mir von jedem Cover wünsche, ist gegeben, aber leider nicht so, dass ich behaupten könnte, es würde die Geschichte gut repräsentieren. Es sieht mit diesem Mädchengesicht beinahe genauso wie alle anderen Jugendbücher aus, sticht nicht ansatzweise aus der Masse heraus.

*Fazit:*
Mary Hooper hat mit "Totenmädchen" wieder einmal einen wundervollen historischen Roman - nicht nur für Jugendliche - erschaffen. Sehr einfühlsam und emotional reißt die Geschichte um Anne Greens Schicksal den Leser in den Bann, obwohl er den Ausgang der Geschichte bereits kennt. Außerdem liefert "Totenmädchen" viele Hintergrundinformationen über das Leben in England im 17. Jahrhundert, die politischen Ereignisse und die medizinischen Ansichten dieser Zeit. Leider ist mir der zweite Teil des Buches viel zu kurz geraten, deshalb vergebe ich alles in allem 4 Sterne.