Rezension

Große Erzählkunst

Prima facie -

Prima facie
von Suzie Miller

Bewertet mit 5 Sternen

Tony durchschaut das Gesetz der Straße, hier im Gerichtssaal jedoch, erkennt er keinerlei Zeichen. Er hat Angst. Seine Furcht lässt diesen großen, gewalttätigen Jungen zu ihr aufschauen, seine Sinne sind geschärft. Seine Tatoos hat er, wie empfohlen unter einer Schicht Polyester von Primark verborgen. Er ist gerade fünfundzwanzig Jahre geworden. 

Tess steht da, Rücken gerade, guter Stand, kalkuliert und berechnend. Der Richter beobachtet wie sie heranpirscht. Mögen die Spiele beginnen. Tess wiegt den einzigen Zeugen, der glaubt gesehen zu haben, dass Tony zuerst zugeschlagen hat, in Sicherheit, wickelt ihn ein, stellt sich ein wenig ungeschickt an. Er fühlt sich überlegen, wird Wachs in ihren Händen, formbar, unvorsichtig. Und schon verwickelt er sich in Widersprüche. 

Tess ist Anwältin, hat sich auf Strafrecht spezialisiert. Sie ist zugleich gefürchtet und geachtet, erlaubt sich einfach keine Fehler. Der Weg hierher war hart. Mit einem Stipendium ehrte man ihre vorherigen Leistungen. Die meisten hielten das für Glück. Sie lässt sich ihre Herkunft nicht anmerken. Den prügelnden Vater, der verschwand, bevor Tess alt genug war, um die Hand auch gegen sie zu erheben. Ihr Bruder Johnny wurde mit siebzehn verurteilt, hatte nicht das Glück, würdig vertreten zu werden. Ihre Ma putzt seit Tess denken kann. Sie hat sie selten ohne Uniform und Namensschild gesehen. Johnny und Ma haben sie nach Cambridge gebracht, damit sie sich einrichten konnte. Da saßen sie zu dritt auf ihrem Bett und schauten zu Boden. Es war eine tiefe Liebe zwischen ihnen, das konnte Tess spüren, nur zeigen konnte sie keiner. 

Wärend der ersten Vorlesung sitzt sie zwischen Mia und einem verwegen gutaussehenden Typen. Die Professorin erklärt ihnen, dass jede*r dritte im Saal, das Jurastudium vorzeitig abbrechen wird, jede*r dritte. Das wird nicht Tess sein, nicht in dieser Sache, aber in einer anderen. Tess wird die eine von jeder dritten sein. 

Fazit: Was für ein Debüt. Suzie Miller entführt mich in die Welt der augenscheinlichen Gerechtigkeit. Die Protagonistin ihrer Ich-Erzählung, ist so brilliant, wie perfektionistisch, glaubt alles in ihrem Leben unterliege ihrer Kontrolle und gewinnt daraus eine Sicherheit, die sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht hatte. Ihr Ehrgeiz beflügelt sie zu enormen Erfolgen, die ihren Selbstwert heben. Es könnte nicht besser laufen, doch dann erlebt sie einen Kontrollverlust, der alles infrage stellt, ihr Leben, sie selbst, ihre Arbeit, ihr Glaube an Gerechtigkeit. Ich habe ihr die Geschichte in vollem Umfang abgekauft, genau das passiert jeder dritten Frau. Suzie Miller hat intensive Gefühle in mir ausgelöst, mich miterleben lassen, wie sich das Schreckliche anfühlt und was es mit eine*m macht, das ist große Schreibkunst. Eine riesige Leseempfehlung für diesen feministischen Roman.