Rezension

Genialer Shaun Tan

Die Regeln des Sommers - Shaun Tan

Die Regeln des Sommers
von Shaun Tan

Bewertet mit 5 Sternen

Was für ein Buch!

Minimaler Text:

"Also das habe ich im letzten Sommer gelernt:

Nie eine rote Socke auf der Wäscheleine hängen lassen. Nie auf einer Party die letzte Olive essen. Nie dein Glas fallen lassen. Nie die Hintertür über Nacht offen lassen. Nie auf eine Schnecke treten. NIe zu spät zu einem Umzug kommen. Nie einen perfekten Plan verderben. NIe bei einem Schiedsrichter meckern. Nie einem Fremden deine Schlüssel geben. Nie das Passwort vergessen. Nie nach dem Grund fragen. Nie eine Prügelei verlieren. Nie auf eine Entschuldigung warten. ...Immer einen Bolzenschneider mitführen. Immer den Heimweg kennen. NIe den letzten Sommertag verpassen. 

Das wär´s."

Jeder Satz wird auf einer Doppelseite illustriert - und diese Bilder haben es in sich: Atmosphärisch dicht, viele phantastische Gestalten, aussagekräftig. Nur mit den Bildern wird der Text zu einer Geschichte. Zwei Kinder, eins groß, eins klein - zwei Brüder? Erzählt wird aus der Warte des jüngeren: Er unternimmt allerhand gemeinsam mit seinem Bruder, und oft ist er dabei ein bisschen überfordert - wie soll man Regeln einhalten, die man nicht kennt? So ist die Atmosphäre vieler Bilder auch bedrohlich. Irgendwo versteckt ist auch immer ein schwarzer Vogel: Eine Krähe? Ein Unglücksbote? Die Atmosphäre spitzt sich zu, als der jüngere eine Prügelei mit seinem Bruder verliert und gefesselt abgeführt wird: Eine ganze Schar Krähen ist Zeuge, wie seinem Bruder eine Krone überreicht wird. Der Kleine wird eingesperrt; sein Gefängnis ist auf mehreren Doppelseiten abgebildet: Immer düsterer wird die Landschaft, immer einsamer liegt es, und immer größer wird der Vogelschwarm, der es umkreist. Als der große Bruder mit dem Bolzenschneider angefahren kommt, ziehen die Vögel ab. Und die beiden Brüder machen sich auf den Heimweg: Durch eine apokalyptische Landschaft, über eine hohe Mauer, hinein in ein helles Stillleben aus Obst und Kuchen und mit Musik, und zuletzt nach Hause, mit Popcorn auf dem Sofa vor dem Fernseher. Auf dem abschließenden Blatt sitzt die Krähe allein auf der heruntergefallenen Krone.

In Bildern beschreibt Shaun Tan die Beziehung zweier Brüder: Kameradschaft und Konkurrenz, Überlegenheit des Älteren, Macht und Ohnmacht. Der schwarze Vogel ist für mich ein Symbol für die negativen Gefühle, die so oft zwischen Brüdern herrschen. Sie steigern sich und nehmen überhand, doch damit endet die Geschichte nicht: Der große Bruder befreit den kleinen und sie finden zurück nach Hause. Und das Wohnzimmer ist nicht nur anheimelnd, die Wände sind geschmückt mit Zeichnungen, die Elemente aus den durchlebten Erfahrungen darstellen. So können wir davon ausgehen, dass diese nun wirklich verarbeitet sind. Der kleine darf die Fernbedienung benutzen und mitbestimmen, und der Ausblick aus dem Fenster zeigt ein rötliches Licht und einen Vogel, der sich aufschwingt - eine Lerche? Ende gut, alles gut - oder mit den Worten Shaun Tans: "Das wär´s."

Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2015 in der Sparte Bilderbuch.