Rezension

Evakuierung englischer Kinder im Zweiten Weltkrieg - bleibt leider farblos

Die fernen Stunden - Kate Morton

Die fernen Stunden
von Kate Morton

Bewertet mit 2 Sternen

Edith war verblüfft, wie stark ihre Mutter von einem um Jahrzehnte verspätet zugestellten Brief aus der Fassung zu bringen war. In Juniper Blythe, der Briefschreiberin, hatte Meredith während ihrer Evakuierung aufs Land die einzige Freundin ihres Lebens gefunden, über die Zeit seitdem aber kaum gesprochen. Während des Zweiten Weltkriegs waren englische Kinder aus London aufs Land zu Pflegefamilien gebracht worden, um sie vor den erwarteten Kriegshandlungen zu schützen. Bei den Burchills waren Gefühle und Erinnerungen selten Gesprächsthema, so dass Edith erst allmählich herausfindet, wie stark die Zeit auf Schloss Milderhurst ihre Mutter Meredith geprägt hatte. Im streng organisierten Haushalt ihrer Familie fühlte Meredith sich als Kind so fremd, dass sie sich gern vorstellte, adoptiert zu sein und noch andere Eltern zu haben. Meredith Burchill, die ihrem Lehrer als eifrige Schülerin aufgefallen war, zieht mit Saffy, Percy und Juniper Blythe, die sie herzlich bei sich aufnehmen, offenbar das große Los. Die erwachsenen Zwillingsschwestern Seraphina und Persophene ziehen nach dem Tod ihrer Stiefmutter ihre Halbschwester Juniper auf. Raymond Blythe, der Vater der Schwestern, ist Schriftsteller, d e r  Raymond Blythe, dessen Buch über den Mann aus dem Modder Meredith als Kind verschlungen hat. Von ihrem Lehrer war Meredith später ermutigt worden, selbst zu schreiben. Mitten im Krieg hat ihre Familie andere Sorgen und hält das Interesse ihrer Jüngsten an der Literatur für recht sonderbar.

Drei Schwestern in einer ungewöhnlich engen Beziehung zueinander, eine Pflegetochter, die sich in dem Dreimädlerhaus mit berühmten Schriftsteller-Vater wie im Paradies fühlt, eine circa dreissigjährige Frau der Neuzeit, deren besondere Neugier auf Briefe und Manuskripte aus der Kriegszeit vermutlich durch ihren Beruf im Verlagswesen geweckt werden wird und ein Geheimnis der Vergangenheit, das zum Beziehungsabbruch zwischen Ediths Mutter und Juniper Blythe geführt haben könnte. Plot und Figuren lassen einen üppigen Familien-Schmöker erwarten, angereichert mit unheimlichen Erscheinungen inmitten von bröckelnden Mauern.

Fazit:
Kate Morton hat mich im ersten Drittel ihres Romans nicht für ihre Charaktere und den komplizierten Plot begeistern können, so dass ich das Buch nach 200 Seiten beinahe abgebrochen hätte. Obwohl das Schicksal von Mortons Figuren, speziell die Verdrängung der eigenen Kriegserlebnisse in der Generation von Ediths Mutter mich sehr interessiert hat, konnte mich die Auflösung der Geheimnisse auf Schloß Milderhurst am Ende nicht mehr begeistern. Die Begegnung zwischen der berufstätigen Edith der Moderne und den inzwischen um 50 Jahre gealterten Schwestern Blythe, in deren Jugend das Lebensglück von Frauen allein von einer standesgemäßen Versorgungsehe abhing, hätte sich angeboten, um die gegensätzlichen Lebensentwürfe von Frauen aus zwei Generationen zu verdeutlichen. Die Schwestern Blythe müssten nicht so farblos wirken, selbst wenn wir uns ihr Leben in den 40ern heute nur schwer vorstellen können. Dem vorgezeichneten Leben im Schloss als zurückgezogene Sonderlinge hätte jede je nach Temperament in ihrer Jugend eigene Träume und Wünsche entgegenzusetzen gehabt. Historischer Hintergrund, Familienbeziehungen und Ediths Einsicht, wie stark die familiäre Tradition des Verschweigens sich bis in die Gegenwart auf ihr Leben auswirkt, hätten auch ohne unheimliche Verwicklungen Stoff genug für einen prallen Familienroman geboten. Der Jugendroman "Liverpoolstreet" z. B. vermittelt historischen Hintergrund und die Entfremdung zwischen Mutter und pubertierender Tochter durch die Trennung der Evakuierung sehr viel eindringlicher. Kate Morton scheint ihren Figuren selbst nicht zu trauen. Sie nimmt beinahe atemlos zu viele Handlungsfäden auf, von denen einige in Sackgassen enden. Sie erzählt in diesem Roman aus zu vielen Perspektiven, wandert von einem Genre zum anderen, um ohne einen verbindenden roten Faden auf 700 Seiten konstant fesseln zu können.