Rezension

Eine Kindheit in den 60ern

Ein Sohn von zwei Müttern -

Ein Sohn von zwei Müttern
von Franz Dobler

Bewertet mit 4 Sternen

Der Junge kräht fröhlich aus der Badewanne „Ich bin ein Adoptivkind!“ und schockiert damit seine Eltern. Offensichtlich hatten ihm andere Kinder schadenfroh verraten, was die Eisenbahnerfamilie ihrem jüngsten Kind bisher verheimlichte.  Viel später erst wird der Junge erfahren, dass er circa 1960 von seiner ungeplant schwanger gewordenen Mutter zur Adoption freigegeben wurde, die bald darauf einen in Deutschland stationierten amerikanischen GI heiratete und mit ihm in die USA ging. Seine adoptierenden Eltern, die kurz zuvor ein Kind verloren hatten,  galten in den 60ern bereits als „alte Eltern“. Zwanzig Jahre älter als die leibliche Mutter hätten sie die Großeltern des Jungen sein können.

Nicht ungewöhnlich für die Zeit waren Erwartungen, ein aufgenommener Sohn würde beruflich und als Familienvater die Nachfolge des Vaters sichern. Generellen Vorbehalten gegen Adoption  aus dem Mund von Nachbarn und Verwandten wurde nur selten  widersprochen.  Der Junge wächst im bayrischen Pfaffenwinkel streng katholisch und in bescheidenem Wohlstand auf.  Über Kriegserlebnisse des Vaters  im Zweiten Weltkrieg wird nicht gesprochen, obwohl  Kriegsversehrte damals noch zum Stadtbild gehörten. Der Vater hatte Träume vom Auswandern nach Kanada aufgegeben und sich mit einer Stelle als Zugführer bei der Bahn für finanzielle Sicherheit zugunsten seiner Familie entschieden. Die Mutter kann ihre Talente nur gelegentlich zeigen, wenn sie In der Kneipe von Vaters Freund Sepp als Küchenchefin souverän große Familienfeiern ausrichtet.

Als „der Junge“  sich in der Schulzeit als besessener Leser entpuppt, sich für Musik interessiert  und  Talent zum Schreiben zeigt, zweifelt er selbst daran, ob ein Konflikt mit den Eltern um seine Zukunft vereinbar ist mit der Tonspur „Dankbarkeit“ mit der er aufgewachsen ist.   Eine Reise zur leiblichen Mutter in die USA konfrontiert Doblers Protagonisten mit Mitte 50 mit seinem verdrängten Konflikt, als Vater einer erwachsenen Tochter aber auch mit der Vererbung der familiären „Sprachlosigkeit“. Eine ehrenamtliche Tätigkeit  im Jugendarrest, die Begegnung mit einer Selbsthilfegruppe während des Studiums und sein Buchprojekt zum Thema Adoption und Serienmörder zeigen, dass „der Junge“ sich mit seiner Biografie weniger souverän versöhnt hat, als er vorgibt. Seine Bewertung von Peter Wawerzineks autobiografischem Roman „Rabenliebe“ (2010) als große Literatur zeigt,  dass  er unreflektierte Opferhaltung beim gleichaltrigen Kollegen und dessen Unfähigkeit zur Versöhnung mit Geschehenem noch nicht wahrnehmen kann.

Franz Dobler porträtiert eine Kindheit und Jugend  in den 70ern, die sich – außer dem Einfluss der katholischen Kirche – wenig vom Aufwachsen bei  leiblichen Eltern unterscheidet. Die Einfühlung des inzwischen über 50-Jährigen in die Position seiner Adoptiveltern, deren Jugend aus Wirtschaftkrise, Nationalsozialismus und Krieg bestand, fällt nur sparsam aus.  Als Autor nähert sich Doblers Protagonist dem Thema Adoption mit Werkzeugen seines Berufs,  u. a.  mit der Lektüre von Murgia (2011), Adichie (2015), Wawerzinek (2010),  Boie (1985), Didion (2012) und Swientek (1982). Mir fehlt jedoch - auch in der Literaturauswahl  -  die Einordnung  des  Recherchierten in die Biografien der Eltern und  die Einstellungen der 60er Jahre.