Rezension

Eine Bloody New-Religious Experience!

Unendlicher Spaß - David Foster Wallace

Unendlicher Spaß, Sonderausgabe
von David Foster Wallace

Als das Buch voriges Jahr erschien und Kritiker ihre gar nicht mal unqualifizierte Meinung in den Äther bliesen, wurde von einem kaum bezwingbaren ‘Ziegelstein’ gesprochen. 1600 Seiten unübersetzbarer, alles sprengender Wortschatz.

Als das Buch voriges Jahr erschien und Kritiker ihre gar nicht mal unqualifizierte Meinung in den Äther bliesen, wurde von einem kaum bezwingbaren ‘Ziegelstein’ gesprochen. 1600 Seiten unübersetzbarer, alles sprengender Wortschatz. Fremdwörter, Latein, abgedrehte, diglossale Fachsprache in einem unüberschaubaren Labyrinth aus Drogen, Sucht und Tennis. Verschachtelte, komplexe Sätze, in denen man minutenlang grübe, um endlich auf eine Art Verb zu stoßen, welches man, mit großem Glück, auch woanders schonmal flüchtig wahrnahm. Den Übersetzer schimpfte man einen SprachExtremisten. Die Übersetzung von IJ zog sich über sechs Jahre.
Das Buch ist länger als Ulysses, länger als Anna Karenina,  und länger als die Bibel. Ganz sicher aber noch 20 X strapaziöser, was einer eigentlich gewünschten Entspannung einfach echt nicht zuarbeitet.
‘Die Zeit’ war es glaube ich, die von einer “lexikalen Vergewaltigung des Lesers” sprach.

Klasse. Also eine dicke Schinderei das Buch? Das nötige Phlegma, so etwas auszulesen wünscht man keinem?

Der Vergleich mit der Bibel hat was. IJ müsste gerechterweise einschlagen wie ein neues Evangelium. In Amerika hat man das Original in den 90ern dermaßen gehyped, dass Journalisten tatsächlich fragten: “Is it our duty to read this book?”
-Keine Ahnung, ehrlich gesagt!  Aber mir kommt die Frage nicht wirklich absurd vor.

Was DFW hier abliefert sind nicht einfach irgendwelche akkumulierten Technozismen und theoretischen Tatsachenberichte.
Ich gebe zu, nach den ersten 300 Seiten war mein kleiner Gefühlshaushalt so verfahren wie das wohl aller Leser und ich hab mich auch gefragt:

Welcher unbeschreibliche Bastard schreibt so etwas!??

Aber das darf man nicht in den falschen Hals kriegen. Wallace ist kein Angeber und nicht gleichzusetzen mit gewöhnlich überragendem Popliteratur-Gefasel.
Gegenüber dem klaren, abgeklärt-analytischen Denken strotzt IJ vor einer unfassbaren Empathie und witzig-pointierter Darstellungen. An keiner Stelle weist Wallace auf seine Überlegenheit, wird geschwätzig oder geht verschwenderisch mit Worten um; benutzt 4-5 schwielige, triumphale Begriffe, wo es ein einzelner wohlbedachter auch tun würde. Er dehnt unsere kleinen Mikrokosmen und sein so strapaziöser Wortschatz ist auch wenigstens so bereichernd.

Abgesehen davon also, dass der Mann mehr Wörter als Goethe zu kennen scheint, mit leuchtenden Formulierungen und allerlei anderen Fähigkeiten auffährt, hat das Buch auch eine Handlung 
3 Haupthandlungen und viele Subgeschehnisse.
Absolut aussichtslos diesen irgendwie gerecht werden zu können, unternehm ich hier trotzdem einen kleinen Versuch:

IJ spielt von 1996 aus gesehen ca. 10-20 Jahre in der Zukunft Bostons.
Im `Zentrum` der Geschichte steht  `Hal Incandenza`, ein potsüchtiger, erfolgreich tennisspielender und sprachlich hochbegabter Junge, der wie der Rest seiner Familie eingebunden ist in die Enfield Tennis Academy, um wie die anderen Maschinen von dort aus den Sprung in den Profisport zu schaffen. Sein Vater James O. Incandenza, Alkoholiker, hatte diese gegründet bevor er seinen Kopf in eine speziell manipulierte Mikrowelle steckte um zu sterben.
Längste Zeit seines Lebens widmete er sich dem Experimentalfilm und schuf dutzende umstrittene, um nicht zu sagen kranke Filme. Ein Sicko erster Güte.
Einer seiner unveröffentlichten Filme – Infinite Jest – versetzt jeden der ihn sieht, augenblicklich in einen komatoösen Zustand. Der Film ist so vollendet unterhaltsam, dass seine Zuschauer darüber Schlaf, Nahrung und Notdurft vergessen, katatonisch werden und letztendlich völlig hirnzerschreddert in ihren Sesseln verenden. Es geht um ein Amerika, das für die vollkommne Unterhaltung sterben würde und alles dafür täte den Tod durch Lust eingelöffelt zu bekommen.
Infinite Jest ist auch das Verbindungsstück, dass die Incandenzas zu den beiden anderen Geschichtssträngen verlinkt. Der erste Link trifft `Don Gately`, einem Insassen von ‘Ennet House’, dem Drogenentzugsheim unterhalb der Tennisakademie. Neben vielseitigen Betrachtungen seiner vergangenen und gegenwärtigen Geisteszustände trifft dieser im Ennet House auf `Madame Psychosis`, der Hauptdarstellerin des Films.
Überzeugt davon, dass Madame Psychosis bei der Suche nach dem ruinösen Film behilflich wäre, wird sie von einer terroristischen Vereinigung namens “Weelchair Assasins” gesucht. Die verschollene und berüchtigte Filmpatrone wollen sie in die Bevölkerung der USA einspeisen. Ein Film sie zu knechten, sie alle zu…..Ihr versteht das Prinzip.

Das sind die erzählerischen Fixpunkte an denen sich der Leser entlanghangelt, während er mit einer ganzen Reihe tragischer, gleichzeitig komischer Momente konfrontiert wird. So ziemlich allen Momenten gemein ist das Motiv der Sucht.  Erfolg, Sex, Uppers & Downers, Lacher und Heuler. Trotz der Perspektivvielfalt findet sich in IJ nicht ein Protagonist, der nicht einfach nur Totally Lost ist. Überall die Gier nach Zerstreuung; Drogensucht auf allen Ebenen.
Auf jeder einzelnen Seite stößt man auf eine unterschwellige aber unfassbar traurige Ausweglosigkeit. Die durch Schnellmacher getriggerte Gier nach Leben verendet laufend in dieser postmodernen Verlorenheit.
DFW treibt die Verzweiflung soweit, dass sich James den Kopf in die Mikrowelle steckt.
Ein Junge hat sein eigenes ICH so weit vergraben, dass er die gesamte Psychoanalyse auswendig lernt, um beim Psychologen mit den nötigen Traurigkeiten rausrücken zu können, die man von ihm erwartet.
Es geht um überfunktionierende, superaufgeklärte, reflektierte Amerikaner, die nach jedem Lebenshappen schnappend, nicht mehr Herren ihres eigenen Lebens sind. Dabei schenkt DFW ihnen aber dermaßen viel Seele und bringt ihnen so viel Mitgefühl und Solidarität entgegen, dass man beinahe seine angelernte Verachtung gegenüber Amerika links liegen lassen könnte.

Wallace vermittelt einen Eindruck davon, wie hart es sein muss, mit solch einer bestürzenden mitleidsgebabten Beobachtungsfähigkeit geschlagen zu sein und man beginnt sich allmählich zu fragen, wie sehr ein Mensch eigentlich lieben kann, ohne sich…..ja:  den Kopf in eine Mikrowelle stecken zu müssen.

Gleichzeitig treten die Gezeichneten mit wirklicher Haltung auf, entwickeln unterschiedlichste Überlebensstrategie, erschaffen und bewahren eine beispiellose Würde. Irgendwo in dieser Eigenschaft – so empfinde ich das dumpf -  liegt auch Infinite Jest’s Geheimnis so viel menschliche Schönheit zu Tage zu fördern.

Im Laufe der Geschichte wir man Zeuge von mindestens 50 Einzelschicksalen, eines bestürzender als das andere. Kaum eines hat mit dem anderen zutun, die Narration wirkt fragmentarisch. Aber darauf kommt es nicht an, denn das Buch wird durch viel stärkere Momente zusammengehalten, als durch kausale, herkömmliche Kontinuität:
Die unterschiedlichste Formen von Sucht, verschriebene, heranwachsende, schwerbeschädigte Seelen, schier unfassbare Sprachgewalt, das Ausgehungertbleiben inmitten von Exzessen, Gottesferne, Verlorenheit und die subtilen Kränkungen, die sich durch 1600 Seiten hindurchziehen, organisieren das Buch stärker, als alle dagewesenen Plotstrukturen.
Die Sprachgewalt wird zum Schluss des Buches einfach ausgedreht und lässt den Leser – zumindest denjenigen, der auch nur die geringste Erwartung an narrative Zusammenhänge, an Anfang und Ende hegt – mit leeren Händen dastehen.
An vielen Stellen dieser riesigen Unordnung vermutet er möglicherweise trotzdem die Umrisse eines brillanten klassischen Romans. Denn als Zusammenfassung des Lebens stellt DFW in diesem Buch eine nichtfürmöglichgehaltene Ordnung her und wird sprachlich wirklich JEDES klitzekleinsten Lebensaspektes habhaft. Es stellt wie kein zweites Buch dar, wie es uns, den armen Schweinen dieser Welt, ergeht.
Es gibt über dieses Buch noch so scheiße viel zu sagen.
Im Ganzen aber ist Infinite Jest wie eine dieser unfertigen Michelangelo Skulpturen: Eine göttliche und perfekte Kreatur, die sich entkräftet aus dem Marmor zu reißen versucht, auf ewig aber in den Stein ragend verbleibt. Nicht in der Lage komplett auszubrechen, dabei aber dennoch äußerst aufschlussreich bleibt in Bezug auf die Vielschichtigkeit und  Dramaturgie des Geschehens.