Rezension

Eindrucksvoll und bewegend erzählt

Schatten der Welt - Andreas Izquierdo

Schatten der Welt
von Andreas Izquierdo

Bewertet mit 5 Sternen

Thorn, ein Ort in Westpreußen. Dort bestimmt im Jahr 1910 die preußische Ordnung das gesellschaftliche Leben und man ist kaisertreu. Der dreizehnjährige Carl Friedländer, Sohn des Schneiders, ist ein nachdenklicher, sensibler Junge. Mit seinem Vater verbindet ihn ein liebevolles Verhältnis. Oft schwelgt dieser in Erinnerung und erzählt von der Zeit, als er die beste Schneiderei Rigas besaß und Carls Mutter noch lebte. Carls bester Freund ist der um ein Jahr ältere Artur. Ein hochgewachsener, stämmiger Bursche, der sich Respekt verschafft. Er strebt nach Besserem, als dem ärmlichen Dasein seiner Familie. Eines Tages lernen die beiden jungen Männer Isi kennen. Die Tochter eines Lehrers ist klug, ehrgeizig und mit allen Wassern gewaschen. Das Trio will eine bessere Zukunft, raus aus den jetzigen Verhältnissen, weg vom Joch der Eltern und der preußischen Disziplin. Die geschäftstüchtigen sind in erster Linie Artur und Isi, mit einer Spur Skrupellosigkeit. Sie beißen sich durch und gründen ein florierendes Unternehmen. Carl ist weniger Geschäftsmann als Künstler. Obwohl er am Unternehmen beteiligt ist, nutzt er seine Chance und lässt sich zum Fotografen ausbilden. Es scheint, als würde ihr Plan vom besseren Leben aufgehen, bis der Ausbruch des Ersten Weltkrieges alles zunichte macht. Mit einem Schlag gibt es kein Geschäft mehr. Die Freunde werden auseinandergerissen. Carl und Artur sind nun Soldaten. Carl wird als Kriegsfotograf eingeteilt, somit bleibt ihm die vorderster Front erspart. Artur kommt an die Ostfront. Nur Isi bleibt in Thorn zurück und muss sich dort gegenüber ihrem gewalttätigen Vater und den Machenschaften des Großbauerns zur Wehr setzen. Der Krieg zwingt die Freunde sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Es ist ungewiss, ob sie sich je wiedersehen und ob sich ihr Wunsch von einem besseren, selbstbestimmten Leben jemals erfüllen wird.

Mit dem Roman „Schatten der Welt“ gelingt dem Autor Andreas Izquierdo ein umfassendes Portrait jener strengen, preußischen Vorkriegsjahre und der Willkür des Ersten Weltkrieges zu zeichnen. Die drei Protagonisten, allen voran der sensible Carl, kommen aus ärmlichen Verhältnissen. Im damaligen Preußen gab es für die untere Klasse wenig Hoffnung, auf Veränderung ihrer Lebensumstände. Die moderne Technik bot da einen Ausweg. Man musste nur klug genug sein, um seine Chance zu ergreifen. Genau das tut der clevere Artur. Und tatsächlich scheint es, als ob die drei jungen Leute ihr Ziel erreichen. Bis der Krieg ihren Erfolg wieder zerstört. Plötzlich sehen sie sich einem sinnlosen Morden und erbarmungslosen Hunger gegenüber. An der Front sind die gesellschaftlichen Zustände wie gehabt. Das Sagen haben Adel und Großgrundbesitzer. Isi kämpft an der Heimatfront gegen Lebensmittelknappheit und die mächtigen Landbesitzer, die Profiteure des Krieges sind.

Auf über 500 Seiten erzählt der Roman von drei jungen Leuten, die ein Ziel verfolgen; ihr Leben selbstbestimmt gestalten zu können. Die Geschichte handelt von ihren Träumen, von ihrem Kampf gegen die Obrigkeit und die eigne Familie, aber auch von Freundschaft und den Mut etwas zu riskieren. Schonungslos wird sowohl der Umgang mit Dienstpersonal geschildert als auch die gesellschaftliche Rolle der Frau offengelegt, die in dieser Zeit wenige Rechte hat. Das Korsett der preußischen Ära ist eng, Titel sind alles.

Während des Krieges kämpft Artur an der Ostfront. Seine Erlebnisse werden detailgetreu wiedergegeben, sodass der Leser das Grauen der Schlachtfelder vor Augen hat. Das grausame, wahllose Morden und das Verheizen einer ganzen Generation, lässt der Autor in einer bildreichen Sprache auferstehen. Besonders herausheben möchte ich Carls Rolle während des Krieges. Als Fotograf und später als Filmregisseur schafft er Propagandabilder, die bis heute oftmals für bare Münze genommen werden. Doch es sind vielfach reine Inszenierungen. Der Erste Weltkrieg war ein Propagandakrieg. Carl verliert sich in seinen Inszenierungen und will diese weiter optimieren, ohne Bewusstsein dafür, was er tut. Seine Wandlung zu verfolgen, die dann jäh stoppt und Carl durch schreckliche Ereignisse wieder zu sich selbst findet, ist dem Autor fabelhaft gelungen.

Isi, die Dritte im Bunde, hat es ohne ihre beiden Freunde zu Hause in Thorn schwer. Sie ist eine emanzipierte, junge Frau, die sich durch ihr rebellisches Wesen immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Ihr unbeugsamer Mut, den sie oftmals an den Tag legt, verlangt Respekt. Ab und an hoffte ich, sie würde es diesmal nicht bis zum Äußersten ausreizen, trotzdem konnte ich ihr Tun und ihre Wut nachvollziehen.

Jeder der drei Freunde hat in diesen Kriegsjahren viele entsetzliche Dinge erlebt. Das Romanende lässt Hoffnung aufkeimen, dass Carl, Artur und Isi eines Tages wieder zusammen finden.

Das Buch ist ein außergewöhnliches Stück Zeitgeschichte. Der Erzählbogen hält über die vielen Seiten seine Spannung aufrecht. Sein leichter, detaillierter Schreibstil führte mich in die Welt von Thorn. Besonders mochte ich die eingebauten Cliffhänger, die immer vorab erahnen ließen, dass da noch was kommt. Trotz vieler Ungerechtigkeiten und tragischen Momenten, habe ich auch oft gelacht. Vor allem aufgrund der Versessenheit einen Titel verpasst zu bekommen und der Unverfrorenheit der jungen Hauptfiguren. Ich habe das Buch nur ungern für eine Lesepause aus der Hand gelegt. Auch die Geschichte von Carl, Artur und Isi wird mich noch einige Zeit beschäftigen. Mich hat der Roman vollends gefangen genommen und begeistert. Ich kann diesen Roman uneingeschränkt empfehlen. Und ich freue mich sehr auf die Fortsetzung!