Rezension

Ein Tschuktschologe in England

Zuerst der Tee - Gabor Fonyad

Zuerst der Tee
von Gàbor Fònyad

Bewertet mit 4 Sternen

Roman mit subtilem Humor, genialer Vielschichtigkeit und großem Interpretationspotenzial, mal was ganz anderes

Cover:
Das Cover zeigt blasenförmige Ausschnitte aus einem Rosengemälde, wobei die Blasen symbolisch für den Blickwinkeln der Hauptperson Eduards stehen könnten. Sie schlängeln sich wie ein Pfad, der von oben rechts nach unten rechts im Zickzackkurs läuft: Vom großen blinden Fleck zum großen Blick fürs Ganze, für die Schönheit der Natur und des Lebens. Doch auch andere Deutungen wären denkbar, denn das Cover lässt ebenso viele Interpretationen zu wie der Inhalt des Buches an sich. Das Bild wirkt schlicht, zeitlos schön und passt zum Titel, der ebenfalls leise klingend daherkommt.

Inhalt:
Eduard ist Wissenschaftler in Wien und hat sein Leben dem Erforschen der tschuktschischen Sprache verschrieben. Er kennt nur seine Wissenschaft, sein Leben verläuft routiniert und rein rational gesteuert vor sich hin. Um seiner Arbeit in Ruhe nachgehen zu können, mietet er sich in der englischen Kleinstadt Rye in eine Pension ein. Dort begegnet er der Musikerin Pauline, die das komplette Gegenteil von Eduard darstellt: sie ist spontan, nicht berechenbar und eben durch und durch Künstlerin. Feste Gesetze und Regelmäßigkeiten sind ihr im Gegensatz zu Eduard ein Gräuel. Beim Essen im Speisesaal kommen die beiden ins Gespräch und Pauline bringt dadurch Seiten in Eduard zum Klingen, die dieser bisher noch nicht kannte. Schließlich stößt zu dem ungleichen Duo noch Oscar hinzu, der eigentlich nach Rye gekommen ist, um seine Ruhe zu suchen. Obwohl alle drei eigentlich für sich sein wollten, stoßen sie in dem kleinen Ort immer wieder aufeinander und kommen sich so einander näher als sie ursprünglich wollten.

Mein Eindruck:
Bereits zu Beginn konnte ich kaum das Buch zur Seite legen, so angetan war ich von dem Schreibstil, es war wie eine Wellnessmassage für die Seele. Das liegt an den liebevollen Detailbeschreibungen von Eduards Charakter, aber auch dem geschickten Einflechten des umfangreichen Wissens des Autors über die Sprache Tschuktschisch, Musik, Kirche und Essen. Begleitet wird dies von einem stets vorhandenen subtilen Humor, der einem beim Lesen ein Schmunzeln ins Gesicht zaubert.
Die Hauptperson Eduard mochte ich von Beginn an. Er entspricht in extremen Maßen dem Klischee eines verschrobenen Wissenschaftlers, der mit seinen Gedanken nur bei der Arbeit ist. Er erlaubt sich keine Ablenkungen oder Emotionen, zieht jeden seiner Tage in einem vorbestimmten Rhythmus durch und versagt Alkohol, Kaffee und sonstigen Genussmitteln, die seinen Geist verändern könnten. Das Auftauchen der chaotischen Musikerin Pauline bringt sein akkurat geführtes Leben ins Wanken, mehr und mehr dringt sie in seine Denkweise ein und verwandelt seinen Blick für den Sinn des Lebens. Auch seine Gefühlswelt wird in Aufruhr versetzt, seine Emotionen steigern sich kontinuierlich während des Romans bis zu einem bestimmten Punkt, an dem er eine Entscheidung treffen muss, wie er damit umgeht.
Pauline ist die Figur, die dem statische Leben Eduards neuen Schwung gibt, sie ist lebensfroh, spontan und oft wankelmütig. Das Auftauchen Eduards reizt sie, weil seine Lebenseinstellung völlig anders ist als die ihre. Dennoch ist unklar, ob die Begegnung mit ihm auch bei Ihr Spuren hinterlassen wird, er bleibt ihr ein Rätsel, sie sagt "Ich weiß wirklich nicht, ob dieser Mensch nicht doch ausschließlich aus Denken besteht, ohne Körper.... Wie ein Gespenst". Und dann ist da noch Oscar, den ein bestimmter Grund in den kleinen Ort Rye geführt hat. Er spielt, ebenso wie Mario, ein Freund Paulines, nur eine Randfigur, die immer wieder auftaucht, um neue Impulse zu setzen. Seine Beweggründe bleiben dabei undurchsichtig.

Dieser Roman ist schwer zu beschreiben: er ist sehr faszinierend und doch nicht greifbar und in keine Schublade passend. Die Handlung ist sehr vielversprechend: die Interaktionen der einzelnen Personen und die zunächst kontinuierliche Veränderung Eduards, die die Spannung zum Ende hin immer weiter steigen lässt. Doch in den letzten Kapiteln erfährt der Roman eine unerwartete, überraschende Wende, die mich ratlos, verwirrt und ein wenig enttäuscht zurückließ. Dennoch finde ich ihn gut, denn neben der Sprache, dem subtilen Humor und den reizvollen Dialogen lässt der Roman, trotz des für mich eher enttäuschenden Endes einfach sehr viel geniales Potenzial der Interpretation, vom Cover angefangen bis hin zum Titel, den Dialogen der Figuren und schließlich dem Ende der Geschichte. Und das macht das nachhaltig Packende und Faszinierende dieses Romans aus.

Fazit:
Roman mit subtilem Humor, genialer Vielschichtigkeit und großem Interpretationspotenzial, mal was ganz anderes