Rezension

Ein modernes und doch zeitloses Märchen

Vor hundert Jahren und einem Sommer
von Jürgen-Thomas Ernst

Bewertet mit 5 Sternen

Es gibt kein Buch, mit dem ich „Vor hundert Jahren und einem Sommer“ vergleichen könnte – das war ein ganz neues Leseerlebnis für mich.

Erzählt wird die Geschichte von Annemie, die als kleines Kind von ihrer ledigen Mutter zu Zieheltern in das „Dorf der Kirschen“ gebracht wird. Ab einem bestimmten Alter möchte die Ziehmutter Annemie nicht mehr im Haus haben und sie muss ihren eigenen Weg gehen, der sie nach vielen, oft unangenehmen Erfahrungen letztendlich wieder zurück ins Dorf der Kirschen führt…

Das Buch liest sich wie ein Märchen für Erwachsene. Es gibt kaum Namen. Außer Annemie und ihrem „Ziehbruder“ Jonathan werden die Menschen beschrieben, nicht benannt, zum Beispiel der Experimenteur, der Limonadenausfahrer, der Vater des Kindes. Auch Ortsnamen gibt es nicht. Da sind das Dorf der Kirschen, ein Land im Süden, der Ort, der auf ihrer Fahrkarte angegeben war… Und keine Zeitangaben. Nur anhand einiger Vorkommnisse konnte ich mir zusammenreimen, wann die Geschichte spielt. Es gibt auch keine direkte Rede, die den Erzählfluss unterbricht, sondern Gesprochenes wird einfach kursiv geschrieben. Was es gibt, sind sehr detaillierte Beschreibungen der Natur, der Menschen, der Geschehnisse.

Nachdem ich mich an diesen Stil gewöhnt hatte, hat mir das Buch sehr gut gefallen. Für mich war es kein Buch, das ich an einem Tag durchlese, was ich normalerweise mache, weil ich wissen möchte, wie es weitergeht. Doch hier ist die Handlung zwar interessant, aber das Wichtigste ist die Erzählung an sich. Ich fand es sehr schön, mich jeden Abend kurze Zeit mit dem Buch hinzusetzen und in diese eigentümliche Stimmung einzutauchen, die dieses Buch vermittelt.