Rezension

Der Winterjunge

Anders - Andreas Steinhöfel

Anders
von Andreas Steinhöfel

Bewertet mit 5 Sternen

Stell dir vor, du hast den kommenden Tag Geburtstag, deinen 11. und du kommst nach Hause und wirst von einer Eins (einer der beiden Einsen, die eine Elf darstellen sollen) gestreift, die vom Dach fällt, wo dein Vater sitzt und sie befestigen wollte. Für dich, für deinen Geburtstag. Und die Eins ist verdammt schwer, also taumelst du weiter zur Garageneinfahrt, in welche just in diesem Moment deine Mutter einbiegt - ein bisschen zu hastig vielleicht, jedenfalls viel zu schnell, um noch zu reagieren und dann ... ist es passiert. Du liegst im Koma. 263 Tage lang, genau so lange, wie deine Mutter mit dir schwanger war. Und als du aufwachst ... als du aufwachst, ist alles anders. Du kannst dich an nichts mehr erinnern, nicht wer du bist, wer du warst, was passiert ist, wer diese Leute sind, die sich deine Eltern nennen. Stattdessen bist du auf gewisse Art klarsichtiger, besitzt zu viel von allem: von Empathie, von Scharfsinnigkeit, von innerer Wahrheit.

Genau das ist Felix passiert. Felix, der sich gar nicht mehr glücklich fühlt und sich jetzt anders nennt, nur mit Großbuchstaben. Denn das ist er, tief in sich und auch äußerlich. Er besitzt jetzt Fähigkeiten, die vorher nicht da waren, und die seiner Umgebung Angst machen, obwohl er niemandem Angst machen möchte. Und dann ist da noch das Geheimnis, das nicht nur in seinem Inneren schlummert, sondern auch auf der Festplatte seines Computers; ein Geheimnis, von dem es besser wäre, es käme nie ans Licht. Glaubt jemand anders, nicht Felix, der sich Anders nennt. Wie sollen sie jetzt mit ihm umgehen? Seine Lehrerin, die versucht, für die Kinder in ihrer Schule da zu sein, seine Eltern, die Lavendelgekleidete, und sein Vater, der langsam entdeckt, dass er ein Rückgrat besitzt. Oder seine beiden ehemals besten Freunde. Stack, der alte Mann, der ihm v.d.U. - vor dem Unfall -, Nachhilfe gegeben hat. Sie alle verbindet ein Band, unsichtbar, ungesehen, und doch so straff gespannt, dass es vibriert.

Vibrieren, nachhallen tut auch dieses Buch. Relativ kurz, wie es ist, nimmt es doch mit auf einen Trip, der so ungewöhnlich wie faszinierend ist. Die Sprache ist so klar wie der Himmel an einem klirrend kalten Wintertag - und auch fast so distanziert. Man meint teilweise die Atemwölkchen über der Geschichte beobachten zu können, obwohl es Sommer ist, später Herbst, kein Vergleich mit wahrer Kälte. Die Protagonisten sind gleichzeitig da und nicht da, Schattenrisse vor einer Kulisse, die ganz und gar ihnen gehört. Einerseits kaum beschrieben, andererseits so deutlich vor einem stehend, dass man meint, ihre Stimmen zu hören: im Kopf, in der Realität, obwohl ... Was ist Realität hier? Manchmal weiß man es ist. Und das ist gut so.

Fazit: Ein Buch, das seinem Titel mehr als gerecht wird.