Rezension

Der Leser soll die Fäden zusammenführen - eine Wundertüte märchenhafter Figuren

CoDex 1962 - Sjón

CoDex 1962
von Sjón

Bewertet mit 3.5 Sternen

1945 wird kurz vor Kriegsende ein jüdischer Flüchtling, der seine Häftlingsnummer aus dem KZ am Unterarm trägt, in einem norddeutschen Gasthof aufgenommen. Aus seiner Vorgeschichte als Bordell verfügt das Haus über hinter Tapetentüren verborgene geheime Kammern, so dass Marie-Sophie den jämmerlich abgemagerten Mann unbemerkt pflegen kann. Sie ist bereits mit einem anderen Mann verlobt, so dass die symbiotische Beziehung zu ihrem Patienten zunehmend sonderbar wirkt. Aus einem Lehmklumpen entsteht in diesem Asyl eine Figur, die Leo in einer Hutschachtel transportiert und erst im zweiten Teil der Trilogie zum Leben erweckt, als er bereits nach Island ausgewandert ist und dort Fuß gefasst hat. Leo erzählt Jósef, seinem gemeinsame Sohn mit Marie-Sophie, dessen Geschichte und die Geschichte Islands. In einem komplexen Mosaik werden Stimmen verschiedener Icherzähler, neutrale Beobachtungen und darin wiederum wörtliche Rede ineinander geschachtelt, voneinander unterschieden durch unterschiedliche Redezeichen. An der Erzählperspektive zweifelt man als Leser so manches Mal, bis Jósef gesteht, dass er alles zweimal erlebt, also doppelt zum Leben erweckt, und darum sehr wohl berichten kann, was er als Baby erlebte.

Der Autor des Buches ist im selben Jahr geboren wie Josef: 1962. Man könnte die Trilogie zugleich als Geschichte des Jahrzehnts der Babyboomer sehen, der geburtenstarken Jahrgänge nach dem Krieg, die häufig zu glauben scheinen, dass es außer ihnen keinen anderen Jahrgang geben kann. Den dritten Teil sehe ich als entscheidenden Abschnitt der Trilogie. Während zu Anfang Zwerge, Einhörner, Gestaltwandler, Engel und Prinzen auftreten, und Josef als Auswanderer im Mittelteil einen schwarzen Predigersohn trifft, geht es nun um zeitgeschichtliche Ereignisse. Wer sich an Fischereikonflikte und Vulkanausbrüche des 20. Jahrhunderts erinnert und an das isländische DNA-Projekt, wird hier angeregt, tiefer in Islands jüngere Geschichte einzusteigen. Zum isländischen Genomprojekt passend tritt im dritten Teil ein Genforscher auf, der offenbar besprochene Toncassetten hinterlassen hat.

Am Ende bleiben nach über 500 märchenhaften Seiten lose Fäden zurück, die Sjóns Leser selbst zu verfolgen und miteinander zu verflechten haben. Diese Wundertüte an Geschichten hat mich intensiv beschäftig. Überzeugt empfehlen möchte ich sie nicht, weil die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau und die Vorstellung von weiblicher Sexualität selbst für Figuren zu sonderbar wirkt, die am Ende des Zweiten Weltkriegs schon erwachsen waren.