Rezension

Der lange schmerzvolle Weg zu sich selbst

Sieben Sekunden Luft -

Sieben Sekunden Luft
von Luca Mael Milsch

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn man diesem Buch gerecht werden will, braucht man Zeit. Die Lektüre ist nichts für die schnelle Unterhaltung. Sie geht in die Tiefe und hält auch zwischen den Zeilen viel zum Nachdenken bereit. Es ist durchaus ein Lesestoff, der mehr als einmal gelesen werden sollte, um die Feinheiten, die vielen Facetten zu erkennen und zu verstehen.

Aus drei Perspektiven reflektiert die Protagonistin Selah ihr Leben. Damit verbunden sind drei Zeitebenen, die durch die Jahreszahlen (1995 - Ich, 2006 - Du, 2017 - Sie) gekennzeichnet sind.

Wir erleben die Geschichte aus der Ich-Perspektive (11 Jahre - Sprache dem Alter angepaßt), eine Variante aus der Du-Sicht (sehr ungewöhnlich, ist für mich aber schon eine Art der Distanzierheit) und die auktoriale Sichtweise mit einem gewissen Abstand von der eigenen Person (aus der Sie-Sicht). Das ist meine Interpretation. Sehr gekonnt wurde das von Luca Mael Milsch mit diesen Kunstgriffen in Szene gesetzt, so dass ich die Entwicklungsstufen Selahs gut unterscheiden konnte.

Der besondere Schreibstil wirkt auf mich durch die Einfachheit der Sätze, durch die Wortwahl. Ich empfinde ihn als sehr eindringlich und intensiv. Die teils traumatischen Erlebnisse Selahs bekommen dadurch die entsprechende bedeutungsvolle Wirkung.

Das Buch erzählt von einer sehr schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, die mitunter sogar toxische Züge trägt. Selah wollte gefallen, geliebt werden, die Mutter behandelt sie wenig gefühlvoll, teilweise übergriffig, dominant, raubt ihr das Selbstwertgefühl, gibt ihr nicht den Halt, den sie benötigt. Es wirkte auf mich total echt. Die Dichte der Emotionen sind bewegend, aber ab und zu verstören sie auch. Die Zerissenheit, das Verlorensein Selahs spürte ich in und zwischen den Zeilen. Vieles wird gar nicht ausgesprochen oder bleibt zwischen den Zeilen hängen. Das Kind kann vieles nicht einordnen, hat aber auch anscheinend niemanden, der es versteht. Sie macht alles mit sich allein aus. Das ist auch später so, bis sie ihren Menschen fürs Leben findet, der sie endlich in ihrer ganzen Persönlichkeit wahrnimmt.

Sie hätte Hilfe, Verständnis und vor allem das Gefühl der Geborgenheit von der Mutter benötigt, bekommt das aber alles trotz hoffnungsvoller Erwartung darauf, nie.

Bis aufs Sterbebett der Mutter (2023) begleiten wir Selah und es ist schmerzlich spürbar, wie sehr sie hofft, doch noch Zugang zu ihr zu finden...

 

Fazit:

Es ist eine intensive Erzählung auch durch die Unmittelbarkeit, der Einfachheit der Wortwahl. Die Lesenden erleben sehr persönliche und emotionale Situationen der Protagonistin hautnah mit. Sie nehmen teil an der Entwicklung eines Kindes aus einer belastenden Kindheit bis hin zu einem erwachsenen Menschen, der mehr und mehr erkennt, was ein selbstbewußt geführtes Leben bedeutet.