Rezension

Brutal und poetisch

Wintermädchen - Laurie Halse Anderson

Wintermädchen
von Laurie Halse Anderson

Auf der Buchrückseite steht "brutal und poetisch zugleich erzählt das Buch von einem Mädchen, das sich in seiner Magersucht zu verlieren droht" und ich könnte es nicht besser beschreiben. Brutal und poetisch, schaurig schön und traurig krass...auf jeden Fall keine leichte Lektüre, obwohl sie federleicht eine traumhafte Wortwahl hat.

Lia und Cassy schwören sich die dünnsten Mädchen zu werden. Doch Cassy wird tot aufgefunden und hinterlässt Lia viele unbeantwortete Anrufe auf dem Telefon. Lia macht sich Vorwürfe: Warum hat sie nicht geantwortet? Was hätte sie tun können? Wie geht es nun weiter? Cassy spuckt ihr weiter im Kopf und Lia kann trotz dem Tod ihrer Freundin nicht mit der Magersucht aufhören.

Mit diesem Roman habe ich einen Einblick in die verdrehte Wahrnehmung von Menschen mit Essstörungen bekommen. Ich konnte mir nie vorstellen, wie man sich selbst zu Tode hungern kann, wie man sich fett finden kann, wenn man tatsächlich nur noch aus Haut und Knochen besteht. Wie man die Energie und die Erleuchtung erwarten kann, wenn man nur noch 35kg wiegt und der Körper kaum noch die Kraft hat, sich selbst aufrecht zu halten. Die Autorin betont in der Danksagung am Schluss nochmals wie sehr sie den Austausch mit Betroffenen schätzt und es nur deshalb möglich war, solch einen Roman zu schreiben. Obwohl Lia und Cassy fiktiv sind, entstand eine Geschichte, die wohl in der Realität doch irgendwie so ähnlich ablaufen könnte. Ein trauriges Schicksal eines Individuum, im Teufelskreis seiner Krankheit. Denn Magersucht ist nicht nur Schlankheitswahn, sondern eine ernst zu nehmende Krankheit, die sich im Kopf festsetzt und nur schwer wieder aus der Psyche zu bringen ist. 

Der Leser begleitet Lia durch die Trauerzeit und durch die eigene Magersucht-Geschichte. Eigentlich hätte ich mir mehr gewünscht über den Tod von Cassy, etwas mehr Vorgeschichte, wie die beiden genau zur Magersucht kamen, mehr über das Umfeld wie die Familie von Cassy oder Freunde an der Schule (denn das wurde zumindest auf dem Klappentext erwähnt, kommt dann aber kaum vor). Auch vom Ende hätte ich mir mehr erhofft. Es gibt zwar neue Hoffnung, dennoch hätte ich darüber hinaus gerne mehr erfahren wie es weitergeht. Während der Geschichte passiert ausserdem relativ wenig, Lia zählt Kalorien, träumt von Cassy und schummelt auf der Waage. Sehr interessant ist, dass man sich mit ihren Gedanken und ihrem Handeln sehr fokussiert auseinandersetzt, was mir eben diesen Einblick in die Wahrnehmung einer Magersüchtigen ermöglichte. Leider bleiben dadurch viele Nebencharaktere allerdings sehr zweidimensional und werden nur aus Lias Sicht gesehen, die ja bekanntlich etwas verzerrt ist.

Loben muss ich allerdings den Schreibstil. Die Autorin beweist eine unglaubliche Wortwahl, schreibt federleichte Träume, schwarze Abgründe aus einem Meer aus Trauer und Wut, heftige Auseinandersetzungen aber auch Momente der Liebe. Besonders zu Anfang oder in Lias Gedanken werden viele Metaphern benutzt, poetisch formulierte Illusionen, Fragmente von Tagträumen wie aus dem Kaleidoskop und Bilder, die wie Halluzinationen am Horizont schimmern und Geister auferstehen lassen. 

Von der Geschichte hätte ich mehr drumherum erwartet, vom Schreibstil bin ich grosser Fan.
 

4/5 Sterne