Rezension

Brisant und aufwühlend

Quicksand: Im Traum kannst du nicht lügen - Malin Persson Giolito

Quicksand: Im Traum kannst du nicht lügen
von Malin Persson Giolito

Bewertet mit 4 Sternen

Inhalt

Es riecht nach faulen Eiern. Die Luft ist grau und verschwommen vom Pulverrauch. Außer mir sind alle von Kugeln durchsiebt. Und ich habe noch nicht einmal einen blauen Fleck. Stockholm: Nach einem Blutbad an einem Gymnasium steht die achtzehnjährige Maja vor Gericht. Sie hat geschossen, und unter den Toten sind ihre beste Freundin Amanda, ihr Freund Sebastian und der Lehrer Christer. Wie konnte es dazu kommen, dass dieses einstmals so beliebte Mädchen zur meistgehassten Person Schwedens wurde? Und ist sie überhaupt eine Mörderin? (Copyright: Bastei Lübbe)

Meine Meinung

Wenngleich bei "Quicksand - Im Traum kannst du nicht lügen" das brisante Thema aufwühlende Lesemomente verspricht, hat mich Malin Persson Giolito mit ihrer Geschichte nicht durchweg in den Bann ziehen können. Dabei waren die ersten Seiten als Einstieg super: Die Bluttat, die Dreh- und Angelpunkt des Romans ist, wird gleich am Anfang geschildert, wobei natürlich die wichtigsten Details ausgespart werden. Dadurch verfehlt der Prolog seine Wirkung nicht: Als Leserin war ich bestürzt und - da aufgrund des fehlenden Zusammenhangs mehr Fragen als Antworten geliefert werden - auch neugierig auf die Ereignisse, die zu diesem Moment geführt haben. Das ist auch insgesamt die große Stärke von Malin Persson Giolitos Werk. Sie enthüllt immer nur wenige wichtige Informationen und lässt dadurch viel Spelraum für eigene Vermutungen, die sich (in meinem Fall) nur selten als zutreffend herausgestellt haben. Manche Aspekte waren durchaus vorhersehbar, aber im Großen und Ganzen war es wohl fast unmöglich von Anfang an Tatmotiv und -hergang zu rekonstruieren. Das allein würde wahrscheinlich ausreichen, um die meisten Leser/innen bei der Stange zu halten (bei mir zumindest hat das ganz gut funktioniert). Dennoch hatte ich im ersten Drittel ein erhebliches Problem mit "Quicksand": Giolitos Schreibstil ist ziemlich nüchtern. Protagonistin und Ich-Erzählerin Maja hat gewissermaßen eine Beobachterrolle inne. Wenn man nicht wüsste, dass sie selbst Blut an ihren Händen kleben hat, könnte man meinen, sie wäre eher zufällig an jenem denkwürdigen Tag in dem Klassenzimmer gewesen, in dem mehrere Personen ihr Leben verloren haben, und stünde zu Unrecht vor Gericht. Der große Vorteil an Majas objektiven Perspektive ist, dass die Leserschaft dadurch sehr ausführliche Beschreibungen der Personen um Maja herum - die Opfer, ihre Angehörigen, die Juristen und Polizisten - bekommt. Leider bleibt dabei aber auch in den ersten Kapiteln etwas Entscheidendes weitgehend auf der Strecke: die Emotionen. Maja ist keineswegs eine herzlose Person. Aber dadurch, dass sie Vieles mit einer gewissen Distanz erzählt, wirkt es so, als würde sie die Geschichte einer anderen Person widergeben. Als hätte sie sich emotional von ihrem früheren Ich abgekapselt, als wäre sie ein Mädchen, das sie mal kannte, aber mit dem sie nun nichts mehr zu tun hat. Einerseits ist das verständlich, schließlich haben sie die Ereignisse nicht weniger traumatisiert als alle anderen Betroffenen (was der ein oder andere in ihrer Umgebung gerne vergisst). Aber wenn sie in den ersten Romansegmenten ihre Beziehungen zu Sebastian, zu ihren Eltern oder zu Amanda erklärt, hat man nicht das Gefühl, als würde da eine tiefere Verbindung bestehen oder hätte jemals bestanden. Bei Amanda hatte ich sogar regelrecht das Gefühl, Maja würde sie gewissermaßen verachten, obwohl sie eigentlich den Status ihrer besten Freundin inne hat. Es wird zwar irgendwann klar, dass dem nicht so ist, aber bis zu diesem Punkt hatte ich es schwer, die Wärme in Maja zu sehen. Ich weiß nicht, ob Malin Persson Giolito beim Schreiben im Sinn hatte, Maja etwas unnahbar zu gestalten, sodass man erst tiefer in die Geschichte vordringen muss, um ihr eigentliches Wesen freizulegen. Es würde zumindest hervorragend den Prozess nach der Wahrheitssuche - vom Oberflächlichen zum Kern der Sache - sehr gut widerspiegeln. Eine solche Unnahbarkeit kann aber absolut fatal beim Lesen sein, weil sie jegliche Empathie mit der Protagonistin verhindert oder zumindest erheblich erschwert. Zum Glück kam irgendwann eine Art Durchbruch. Aus knappen Rückblenden wurden allmählich detaillierter beschriebene Szenen, die emotional aufgeladener waren. Durch dieen Umschwung fiel es mir deutlich leichter, mich auf Maja und das Geschehen einzulassen. Mein persönlicher Tipp für jene, die anfangs dasselbe Problem mit Maja haben wie ich: Beginnt (falls ihr es noch nicht getan habt) parallel die Serienadaption (ohne sie gleich komplett zu schauen, sondern immer nur so weit, wie ihr bisher gelesen habt). Mir hat das eindeutig dabei geholfen, einen Bezug zu ihr und den übrigen Charakteren zu bekommen. Das wirklich Interessante an "Quicksand" ist für mich aber, dass die Handlung mich permanent dazu herausgefordert hat, meine moralischen Grenzen zu verschieben und auch längerfristig - über den Rand des Buchdeckels hinaus - meine Charakterurteile (oder besser: Verurteilungen) zu überdenken. Wenn ich in den Nachrichten von Amokläufen und Massakern lese, stellt sich mir im Grunde nicht die Frage von Schuld oder Unschuld, von Gut oder Böse. Das Urteil iegt für mich auf der Hand: Die Täter gehören zur schlimmsten Sorte Mensch, die auf dieser Erde wandelt, und gehören für ihre Grausamkeiten bestraft. Majas Geschichte jedoch lässt die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß verschwimmen und hat mich dadurch dazu animiert, mein eigenes Urteilsvermögen zu hinterfragen und vorsichtiger mit meinen Einschätzungen umzugehen. Durch diesen Zwispalt war das Lesen von "Quicksand" eine literarische Erfahrung, die mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird und die mich immer wieder dazu bringen wird, meine Meinungen zu hinterfragen, wenn ich nicht alle Details kenne.

Mein Fazit
Der Plot von "Quicksand - Im Traum kannst du nicht lügen" hat das Potenzial, die Leser/innen emotional mitzureißen, zu erschüttern und persönliche Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf die Probe zu stellen. Zum Großteil hat Malin Persson Giolito dieses Potenzial gut genutzt. Mir hat es sehr gefallen, dass sie sich Zeit genommen hat, die Fäden des vergangenen und gegenwärtigen Geschehens zusammenzuführen. Majas distanzierte Haltung hat mir zwar weite Teile des Leseerlebnisses erschwert, aber letztlich habe ich (mit kräftiger Unterstützung der Serienadaption) den Zugang zu ihr gefunden. Giolitos Roman hat nicht ganz denselben Effekt auf mich gehabt, den Jodi Picoults "19 Minuten" auf mich hatte (d.h. meine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich gezogen und ein Wechselbad der Gefühle ausgelöst), aber sie hat - trotz der genannten Schwierigkeiten - einen großen Schritt in diese Richtung gemacht. Wer also Geschichten in diesem Stile mag, wird mit "Quicksand" das richtige Lesefutter gefunden haben, um seine Sucht zu befriedigen.

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